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Die Vogelfrau - Roman

Die Vogelfrau - Roman

Titel: Die Vogelfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Blatter
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vorstellbar. Im Rahmen des Schengen-Abkommens werden ja sogar die Grenzen fallen. Damals jedoch waren Kriege zwischen den Konstanzern, den Eidgenossen und auch den Österreichern häufiger als die wenigen, brüchigen Friedensverträge. Sicher erinnern Sie sich noch gut an die Situation auf dem Balkan. Noch vor wenigen Jahren ging es dort doch ähnlich zu. Zu allem Überfluss waren es nicht nur marodierende Soldatenhorden, die Konstanz heimsuchten, sondern eine ganze Reihe von Naturkatastrophen, Missernten und nicht zuletzt Seuchen. Und da war beileibe nicht nur die Pest. Es gab noch viele andere Plagen, gegen die die damalige Heilkunst kein Mittel wusste. Alte Quellen dokumentieren, dass zeitweise die Friedhöfe so voll waren, dass sie keine neuen Leichen mehr fassen konnten. Die Menschen an der Schwelle zur Neuzeit fühlten sich, glaube ich, oft im wahrsten Sinne des Wortes von allen guten Geistern verlassen. So ist es eigentlich nur zu verständlich, dass sie Sündenböcke für ihr Elend suchten.«
    »Hexen?«
    »Ja, Hexen – oder soll ich besser sagen Frauen? Die Theorie von der schwarzen Magie, vom sogenannten Schadenszauber sollte Missernten, Wetterkapriolen oder Seuchen erklären. Im Hochmittelalter hatten Frauen in der städtischen Gesellschaft ihren Platz. Sie konnten ihr Vermögen selbst verwalten und es gab sogar Zunftmeisterinnen. Im Zeitraum, über den wir jetzt sprechen, gab es hingegen eine deutlich rückläufige Entwicklung. Die bürgerlichen Rechte der Frauen wurden massiv beschnitten. Ihr Wissen, ihre Kraft und, last, but not least, ihre Schönheit und Sexualität wurden zumeist als Bedrohung empfunden.«
    Hinsichtlich sexueller Anziehungskraft bestand bei der Löble kaum ein Verdacht auf magische Unterstützung.
    Sie fuhr sich mit den breiten Fingern durch das kurze strähnige Haar, das daraufhin wie bei einem Kobold wirr in die Luft stand. Der Kommissar schaute abwartend. Als sie schwieg, wagte er den Versuch einer Zusammenfassung: »Die gefundenen Schädel sind also Ihrer Meinung nach – Hexenschädel?«
    »Ja, genau. 1582 wurden zwei und 1584 drei Frauen verbrannt. Die Gerichtsprotokolle sind erhalten geblieben und liegen uns vor. Unsere Hypothese beruht darauf, dass die Delinquentinnen nicht immer vollständig verbrannten. Große Röhrenknochen und die Schädel blieben relativ unbeschädigt. Normalerweise wurde die Asche dieser bedauernswerten Frauen wie Unrat in den See gekippt. In diesem Fall gehen wir aber davon aus, dass jemand nach der Hinrichtung die Schädel eingesammelt und sie heimlich an einem Ritualort, weit außerhalb der damaligen Stadtgrenzen, bestattet hat. Vielleicht fanden dort tatsächlich heidnische Rituale statt. Sie dürfen nicht vergessen, Herr Kommissar – der Hexenglaube war sehr weit verbreitet. Nicht wenige Frauen glaubten tatsächlich an ihre eigenen magischen Kräfte. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Ich habe mir zum Beispiel vorgestellt, dass eine Tochter, die die Hinrichtung ihrer unseligen Mutter miterleben musste, vielleicht den Schädel ihrer Mutter rettete. Vielleicht hat diese Tochter dann aus Rache – wer weiß das schon – selbst damit begonnen, ein wenig Schadenszauber zu treiben. Es ist nur eine Fantasie, Herr Kommissar. Dafür gibt es natürlich keinerlei wissenschaftliche Beweise.«
    Sie lehnte sich zurück.
    Dem Kommissar standen unwillkürlich lebhafte Bilder vor Augen. Er sah nächtliche Nebel, die kalt und feucht über die noch qualmende Asche eines riesigen Scheiterhaufens krochen. Eine dunkle Gestalt, in einen schweren, wollenen Mantel gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, stocherte mit einer langen Stange zwischen verkohlten Balken und rotglühenden Holzstücken herum. Ein noch warmer Schädel kollerte vor ihre Füße. Die Gestalt kniete nieder, den Kopf gebeugt wie in heimlicher Zwiesprache. Bloch beachtete diese Szene jedoch nur kurz. Er befand sich im 21. Jahrhundert und nicht in einem Roman. »Es waren doch nicht allein diese Hexenschädel«, fuhr er fort. »Die eigentliche Sensation war doch das da.« Er klopfte mit dem Fingerknöchel auf das dicke schwarze M im Zentrum des Drudenfußes.
    »Genau.« Die Löble atmete tief. »Die Mumie. Mit der Mumie fing der ganze Ärger an.« Ihre Stimme veränderte sich, wurde leise, suchender. »An der Peripherie hatten wir schon alles untersucht. Dort war nichts mehr zu finden. Es blieb nur noch die Mitte. Wir waren alle gespannt. Lag dort noch ein weiterer Schädel? Oder würde sich

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