Die Vogelfrau - Roman
Überraschungen. Wenn er ein Projekt begann, dann plante er es bereits zu Beginn komplett durch. Er entwickelte meist sehr detaillierte Hypothesen und hielt sich während der Ausgrabungen exakt an diese vorgegebene Struktur. Normalerweise kam es dann auch immer so, wie er es vorausgesagt hatte. Er war wirklich sehr ...« Sie stockte kurz. »Sehr berechnend.« Sie verstummte wieder und sah den Kommissar an.
»Berechnend – wie meinen Sie das?«
»Wie dumm von mir, das war wohl eine klassische Freud’sche Fehlleistung. Wirklich dumm von mir. Ich meinte natürlich, Hoffmann war berechenbar. Absolut berechenbar, ein sehr zuverlässiger Partner. Sehr ...« Das Satzende hing unausgesprochen zwischen ihnen in der Luft.
»Wo befindet sich die Mumie derzeit?«
»Sie liegt in der Gerichtsmedizin in Zürich.«
»In der Schweiz? Und dann auch noch in der Gerichtsmedizin? Ist das nicht ungewöhnlich?«
»Nein, nicht im Geringsten.« Die Löble lächelte entspannt. »Mit den Zürchern verbindet uns schon seit Jahrzehnten eine gute Zusammenarbeit. Sie werden die Mumie mit den modernsten Methoden untersuchen und außerdem – das ist allerdings ein ganz pragmatischer Grund – haben die Gerichtsmediziner bessere Aufbewahrungsmöglichkeiten für einen so heiklen Fund.«
»Als ob es im südlichen Baden-Württemberg keine geeigneten Tiefkühltruhen für so eine Mumie gäbe.« Der Kommissar fiel aus seiner Rolle. Sein lokalpatriotisches Ehrgefühl war tief gekränkt.
Die Löble lächelte wieder. »Da braucht es schon eine etwas ausgefeiltere Technologie als nur eine x-beliebige südbadische Tiefkühltruhe. Es sind halt historisch gewachsene Verbindungen zwischen unseren beiden Instituten. Das ist mehr als nur die technische Ausrüstung. Es hat etwas mit der Chemie zwischen den Mitarbeitern zu tun.«
Sie waren vorerst fertig. Der Kommissar streckte die Beine aus. Ein bedrohliches Knurren ließ ihn zurückfahren.
»Churchill! Kusch!« Das Grollen ebbte ab. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er würde über die Grenze müssen. Fürchterlich. Ihm graute schon jetzt vor dem obligatorischen Stau in Zürich.
4. Kapitel
Da steht das gelbe Ortsschild. ›Konstanz – Kreisstadt‹. Ich überschreite die Stadtgrenze. Ich hoffe auch, eine andere Grenze zu überschreiten. Es ist eine Zeit der Vorbereitung, hat der Meister gesagt. Ich werde lange unterwegs sein.
Die neuen Schuhe sind ungewohnt: Mokassins. Das Leder wird wasserdicht werden, hat er gesagt. Und dass ich, später, wenn ich fortgeschritten bin, lernen werde, barfuß zu gehen. Der Meister geht barfuß. Immer. Auch im Winter. Seine Füße sind unempfindlich geworden, seine Sohlen sind hart wie Leder.
Meine schwarzen Boots habe ich vor die Zimmertür gestellt. Vielleicht schenkt Mutter sie irgendjemandem oder steckt sie in die Schuhsammlung. Wer weiß, wer sie dann tragen wird. Ich werde sie nicht mehr brauchen.
Meine Jacke habe ich auch dort gelassen. Und die schwarzen Jeans. In dem weiten Lederkleid fühle ich mich wohl.
Das runde Amulett, das mir der Meister gegeben hat, habe ich mir an einer Lederschnur um den Hals gehängt. Es ist so warm wie mein Körper. Es führt gute Gedanken hin zu meinem Herz.
Nur um meine Boots tut es mir leid. Aber das kommt daher, weil ich noch keinen echten Kontakt zu meiner Mutter gefunden habe, sagt der Meister. Der Kontakt geht über die Füße. Der Kontakt zu Mutter Erde.
Erst wenn diese Verbindung hergestellt wurde, kann ich in meinem Ritual weiter fortschreiten. Es wird nicht einfach werden.
›Erst, wenn du jeden Schmerz gespürt hast und alle Tränen geweint hast, wenn sie Tropfen für Tropfen auf dein Herz gefallen sind, dann kommt die Weisheit.‹
So hat er gesagt.
Vermutlich will ich sie gar nicht, diese Weisheit. Ich will nur meine Ruhe.
Ich gehe.
Meine Füße sind kalt und schmerzen.
Der Boden ist hart und asphaltiert. Ich werde meine Mutter abseits der großen Straßen suchen müssen.
Auch der Meister wohnt außerhalb der Stadt. Er wohnt in einem Haus.
›Nur noch kurze Zeit‹, sagte er. ›Die Menschen kommen mich immer noch lieber in einem Haus besuchen als in meinem Tipi.‹
Die Menschen, die seine Hilfe benötigen.
Mein Ritual werden wir jedoch draußen in der Natur vollziehen, weit weg von diesen Häusern mit den Vorgärten, in denen die Laubstaubsauger dröhnen. Vorgärten sind für diese Sorte Menschen nichts anderes als nur ein weiteres Zimmer an ihrem Haus. In diesem Zimmer vergewaltigen sie täglich die
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