Die volle Wahrheit
entschied er. »Und sag jetzt nicht, dass du schreien wirst, denn wir sind hier allein, und ich habe… viele… Schreie… gehört…«
Erneut schien er dem Zusammenbruch nahe zu sein, und wieder erholte er sich. Sacharissa starrte entsetzt auf die zitternde Armbrust. Die Teile ihres Gehirns, die Stille als Überlebenshilfe vorschlugen, hatten sich schließlich doch noch Gehör verschafft.
»Was ist mit diesen beiden?«, fragte Herr Tulpe. »Murksen wir sie jetzt ab?«
»Kette sie an. Wir lassen sie hier.«
»Aber wir haben noch nie…«
»Wir lassen sie hier!«
»Fühlst du dich nicht gut?«, fragte Herr Tulpe.
»Nein! Ich fühle mich tatsächlich nicht besonders gut! Wir lassen sie
hier, klar? Wir haben nicht genug Zeit!«
»Wir haben jede Menge…«
» Ich nicht!« Herr Nadel trat zu Sacharissa. »Wer hat dir den Schlüssel gegeben?«
»Ich werde auf keinen Fall…«
»Soll ich Herrn Tulpe auffordern, unsere beiden Freunde dort für immer zu verabschieden?« Herr Nadel hatte nur vage Vorstellungen vom Universum der Moral, außerdem summte es zwischen seinen Schläfen – aber er glaubte, dass damit soweit alles in Ordnung war. Immerhin würden die Schatten Herrn Tulpe verfolgen, nicht ihn…
»Dieses Haus gehört Lord de Worde, und den Schlüssel habe ich von seinem Sohn!«, stieß Sacharissa triumphierend hervor. »Ich meine den jungen Mann, dem du im Büro der Zeitung begegnet bist! Jetzt wird dir sicher klar, auf was du dich eingelassen hast.«
Herr Nadel starrte sie an.
Schließlich sagte er: »Ich werde es bald herausfinden. Renne nicht. Und ich rate dir dringend davon ab zu schreien. Geh ganz normal, und alles…« Er zögerte. »Ich wollte gerade sagen ›und alles wird gut‹, aber das wäre eine ziemlich dumme Bemerkung, nicht wahr?«
Mit der Grässlichen Gruppe kam man nur langsam voran. Für sie war die Welt eine Mischung aus Theater, Kunstgalerie, Konzertsaal, Restaurant und Spucknapf – alles ständig geöffnet. Außerdem lehnten es alle Gruppenmitglieder strikt ab, irgendeinen Ort in einer geraden Linie aufzusuchen.
Der Pudel Fiffiliebling begleitete sie und versuchte die ganze Zeit, im Zentrum der Gruppe zu bleiben. Nichts deutete auf die Anwesenheit von Tiefer Knochen hin. William hatte angeboten, Wuffel zu tragen, denn in gewisser Weise glaubte er, dass der Hund ihm gehörte. Zumindest gehörte ihm so viel, wie sich für hundert Dollar kaufen ließ. Er besaß diese hundert Dollar nicht, aber die morgige Ausgabe der Zeitung würde sich bestimmt gut verkaufen. Und wer auch immer es auf Wuffel abgesehen hatte… Mitten auf der Straße und am helllichten Tag würde er bestimmt nichts unternehmen. Allerdings verdunkelte der Tag sich rasch. Wolken füllten den Himmel wie alte Daunendecken, und die dichter werdenden Nebelschwaden vereinten sich mit dem Dunst, der vom Fluss kam. Überall strömte das Licht davon.
William versuchte, eine Schlagzeile zu formulieren. In dieser Hinsicht hatte er den Dreh noch nicht ganz raus. Es gab so viel zu erzählen, und er verstand sich nicht besonders gut darauf, die Komplexität der Welt in weniger als sechs Worten auszudrücken. Sacharissa kam damit besser zurecht, denn sie behandelte Worte wie Ansammlungen von Buchstaben, die beliebig neu zusammengesetzt werden konnten. Ihre bisher beste Überschrift betraf eine gildeninterne Auseinandersetzung, und sie lautete:
WILDES CHAOS BEI GILDENAUFRUHR
William brachte es einfach noch nicht fertig, Worte allein aufgrund ihrer Länge auszuwählen, während sich Sacharissa innerhalb von zwei Tagen daran gewöhnte. Er hatte sie bereits daran hindern müssen, Lord Vetinari »STADTBOSS« zu nennen. Wenn man genug Zeit mit einem Thesaurus verbrachte, fand man vielleicht tatsächlich solch einen Begriff; außerdem passte er in eine Spalte, aber der Anblick dieses Wortes hatte William profundes Unbehagen beschert.
Zusammen mit der Grässlichen Gruppe betrat er den Schuppen und war noch immer so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ihm zunächst gar nichts Ungewöhnliches auffiel. Erst die Mienen der Zwerge stießen ihn darauf, dass etwas nicht stimmte.
»Ah, unser Schreiberling«, sagte Herr Nadel und trat vor. »Schließ die Tür, Herr Tulpe.«
Herr Tulpe knallte die Tür mit einer Hand zu. Die andere blieb auf Sacharissas Mund gepresst. Sie sah William an und rollte mit den Augen.
»Und du hast das Hündchen mitgebracht«, sagte Herr Nadel. Wuffel begann zu knurren, als er sich näherte. William wich zurück.
Weitere Kostenlose Bücher