Die volle Wahrheit
Nacht hatte man bei den Dächern der Unsichtbaren Universität eine seltsame fliegende Gestalt gesehen, HALB MENSCH, HALB MOTTE? Wohl eher halb erfunden und halb ausgedacht.
Doch wenn es nach den Geschworenen am Frühstückstisch ging, wurde der Beweis für die Wahrheit einer Geschichte erbracht, wenn man erläuterte, dass sie unmöglich wahr sein konnte. Denn wer machte sich die Mühe, etwas zu bestreiten, das gar nicht existierte?
Er nahm die Abkürzung durch die Ställe in der Buchtgasse. Wie die Schimmerstraße führte die Buchtgasse an der Rückseite von Gebäuden vorbei. Dieser Bereich der Stadt schien nur als ein Ort zu existieren, den man passierte, um interessantere Viertel zu erreichen. Lagerhäuser mit hohen Fenstern und abbruchreife Schuppen säumten die Gasse. Aber hier stand auch Hobsons Mietstall.
Er war riesig, denn Hobson hatte begriffen, dass man mehrere Stockwerke nutzen konnte.
Willie Hobson war ein weiterer Geschäftsmann von der Art des Königs vom Goldenen Fluss. Er hatte eine Nische gefunden, sie besetzt und so weit geöffnet, dass viel Geld hineinfiel. Viele Leute in der Stadt brauchten gelegentlich ein Pferd, und kaum jemand hatte genug Platz dafür. Man benötigte einen Stall, einen Stallburschen, einen Heuboden… Doch um ein Pferd von Willie zu mieten, benötigte man nur einige Dollar.
Viele Bürger brachten hier auch ihre eigenen Pferde unter. Ständig kamen und gingen Leute. Die krummbeinigen, koboldartigen kleinen Männer, die sich hier um alles kümmerten, hielten nie jemanden an – es sei denn, sie glaubten, jemand hätte ein Pferd in seiner Hosentasche versteckt.
William sah sich um, als eine Stimme aus den dunklen Boxen kam. »Entschuldige, Freund.«
Er spähte in die Schatten. Einige Pferde beobachteten ihn. Etwas weiter entfernt wurden andere Pferde hin und her geführt. Männer riefen, und es herrschte der übliche rege Stallbetrieb. Die Stimme hingegen kam aus einem Bereich ominöser Stille.
»Meine letzte Quittung verliert ihre Gültigkeit erst in zwei Monaten«, teilte William der Dunkelheit mit. »Und ich möchte darauf hinweisen, dass die Messer und Gabeln des Gratis-Bestecks keineswegs aus rostfreiem Edelstahl waren. Es schien vielmehr eine Mischung aus Blei und Pferdedung zu sein.«
»Ich bin kein Dieb, Freund«, sagten die Schatten.
»Wer bist du dann?«
»Weißt du, was gut für dich ist?«
»Äh… ja. Körperliche Ertüchtigung, regelmäßige Mahlzeiten und erholsamer Schlaf.« Williams Blick reichte über die lange Boxenreihe hinweg. »Ich schätze, du wolltest fragen, ob ich weiß, was schlecht für mich ist – im Kontext von stumpfen Gegenständen und scharfen Schneiden.«
»Im Großen und Ganzen. Nein, beweg dich nicht. Bleib dort stehen, wo ich dich sehen kann. Dann passiert dir nichts.«
William analysierte diese Worte. »Ja, aber wenn ich dort stehe, wo du mich nicht siehst, kann mir ebenfalls nichts passieren.«
Jemand seufzte. »Wenn du mir bitte auf halbem Wege entgegenkommen könntest… Nein! Beweg dich nicht!«
»Aber du hast doch gesagt…«
»Bleib da stehen und sei still, hör mir zu, in Ordnung?«
»Meinetwegen.«
»Wie ich hörte, gibt es da einen gewissen Hund, der gesucht wird«, sagte die geheimnisvolle Stimme.
»Ah. Ja. Die Wache sucht ihn, ja. Und…?« William glaubte, in der Finsternis die Konturen einer dunklen Gestalt zu erkennen. Und ein bestimmter Gestank berührte seine Nase und überlagerte sogar den ziemlich starken Geruch der Pferde.
»Ron?«, fragte er.
» Klinge ich vielleicht wie Ron?«, erwiderte die Stimme.
»Nicht… unbedingt. Mit wem rede ich?«
»Nenn mich… Tiefer Knochen.«
» Tiefer Knochen ?«
»Hast du irgendetwas dagegen einzuwenden?«
»Nein. Nun, was hast du für ein Anliegen, Herr Knochen?« »Angenommen, jemand weiß, wo sich der Hund aufhält, möchte aber
nichts mit der Wache zu tun bekommen«, sagte Tiefer Knochen aus dem Dunklen.
»Warum nicht?«
»Sagen wir, die Wache könnte einer bestimmten Art von Person Ärger bereiten. Das ist ein Grund.«
»Na schön.«
»Nehmen wir weiterhin an, gewisse Leute wollen verhindern, dass der Hund ausplaudert, was er weiß. Die Wache gewährt ihm vielleicht nicht genug Schutz. Die Wächter sind recht achtlos, was Hunde angeht.«
»Tatsächlich?«
»O ja. Die Wächter glauben, ein Hund hätte keine Menschenrechte.
Das ist ein zweiter Grund.«
»Gibt es auch einen dritten?«
»Ja. Ich habe in der Zeitung von einer Belohnung gelesen.« »Ah.
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