Die volle Wahrheit
weiterentwickelt und
miniaturisiert, bis sie nur noch aus einem Rohr mit Griff und Abzug
bestand. Es hieß: Wenn die Assassinengilde jemanden fand, der eine
solche Waffe bei sich trug, so würde sie gründlich alle Möglichkeiten untersuchen, sie am menschlichen Körper zu verstecken. Und wer sie
gegen einen Wächter einsetzen wol te, musste damit rechnen, schon
kurze Zeit später den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Wind
hin und her zu baumeln.
Offenbar war unter dem Schreibtisch ein Schalter verborgen, denn
eine Tür öffnete sich, und zwei Männer sprangen ins Zimmer. Einer
von ihnen war mit zwei langen Messern bewaffnet, der andere mit einer
Armbrust.
Herr Tulpe stellte Schreckliches mit ihnen an.
In gewisser Weise war dies ein Talent. Wenn ein Bewaffneter in ein
Zimmer stürmt und weiß, dass ihn dort Ärger erwartet, so braucht er
wenigstens einen Sekundenbruchteil, um sich zu orientieren, die Lage
einzuschätzen, zu denken. Herr Tulpe benötigte keine Zeit. Er dachte nicht. Seine Hände bewegten sich wie von allein.
Selbst für die aufmerksam beobachtenden Augen von Herrn Schräg
war eine Art geistiger Wiederholung erforderlich, und sogar in der Zeit-
lupe des Entsetzens fiel es schwer, Einzelheiten zu erkennen. Herr Tul-
pe packte den nächsten Stuhl und schwang ihn herum. Am Ende der
schemenhaften Bewegung lagen zwei Männer bewusstlos auf dem Bo-
den, einer mit einem seltsam verdrehten Arm, und in der Decke steckte
ein Messer.
Herr Nadel hatte sich nicht umgedreht. Er hielt das Gfähr weiterhin
auf Herrn Schräg gerichtet. Aus einer anderen Tasche seiner Jacke holte
er einen Zigarettenanzünder in Form eines kleinen Drachens hervor,
und dann sah Herr Schräg – Herr Schräg, der beim Gehen knisterte und nach Staub roch – einen Stofffetzen an dem Bolzen, der aus dem Lauf
der Waffe ragte.
Herr Nadel wandte den Blick nicht von dem Anwalt ab, als er den
Fetzen anzündete. Er fing sofort Feuer. Und Herr Schräg war sehr tro-
cken.
»Ich habe etwas Schlimmes vor«, sagte Herr Nadel wie hypnotisiert.
»Aber ich habe so viele schlimme Dinge angestellt, dass dies kaum eine
Rolle spielt. Weißt du, ein Mord ist eine große Sache, aber ein weiterer bedeutet nur noch die Hälfte davon. Verstehst du? Wenn man zwan-zigmal getötet hat, so ist es im Durchschnitt gesehen kaum mehr der Re-de wert. Heute ist ein schöner Tag, die Vögel zwitschern, es gibt Dinge
wie… Kätzchen und so, und der Sonnenschein glänzt auf dem Schnee
und verheißt den Frühling mit Blumen und grünem Gras und noch
mehr Kätzchen und warmen Sommertagen und erfrischendem Regen
und wundervol sauberen Dingen, die du nie wieder sehen wirst, wenn du uns nicht gibst, was sich in der Schublade befindet, denn du wirst brennen wie eine Fackel, du mieser, betrügerischer, hinterhältiger und vertrockneter Mistkerl!«
Herr Schräg tastete in der Schublade herum und legte einen weiteren
Samtbeutel auf den Schreibtisch. Herr Tulpe warf seinem Partner einen
nervösen Blick zu – Herr Nadel hatte nie zuvor Kätzchen erwähnt,
außer in Sätzen, die auch das Wort »Wassertonne« enthielten –, bevor
er nach dem Beutel griff und den Inhalt untersuchte.
»Rubine«, sagte er. »Und …t gute.«
»Geht jetzt«, brachte Herr Schräg hervor. »Unverzüglich. Und kehrt
nie zurück. Ich kenne euch nicht. Ich bin euch nie begegnet.«
Er starrte auf die flackernde Flamme.
Während der letzten Jahrhunderte hatte Herr Schräg viele unange-
nehme Dinge gesehen, aber derzeit wirkte nichts bedrohlicher als Herr
Nadel. Oder irrer. Der Mann schwankte, und sein Blick huschte immer
wieder in die dunklen Ecken des Raums.
Herr Tulpe berührte seinen Partner an der Schulter. »Wir murksen
ihn ab und gehen?«, fragte er.
Nadel blinzelte. »Na schön«, sagte er und schien in den eigenen Kopf
zurückzukehren. »Na schön.« Er sah den Zombie an. »Für heute lasse
ich dich am Leben«, sagte er und pustete die Flamme aus. »Morgen…
wer weiß?«
Es war keine schlechte Drohung, aber irgendwie kam sie nicht von
Herzen.
Und dann war die Neue Firma fort.
Herr Schräg setzte sich und starrte zur geschlossenen Tür. Als Toter
hatte er in dieser Hinsicht reichlich Erfahrung, und deshalb wusste er:
Für seine beiden bewaffneten Sekretäre, Veteranen vieler juristischer
Schlachten, kam jede Hilfe zu spät.
Er nahm ein Blatt Papier aus der Schublade, schrieb einige Worte in
Blockschrift, versiegelte das Blatt in
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