Die vollkommene Lady
alles zeigen.“
Julia streifte Bryan mit einem Blick.
Wie konnte man an einen Bummel durch die Lokale denken, wenn es eine Kathedrale
zu besichtigen gab!
„Ich komme auch mit!“ sagte er sofort. „Von
Architektur verstehe ich sehr viel.“
„Du verstehst gar nichts davon und
kommst auch nicht mit“, verwies ihn Susan. „Wir treffen dich nachher bei Pernollet.
Großmutter hat uns da alle zum Lunch eingeladen.“
„Halleluja!“ war alles, was Bryan
darauf erwiderte.
*
Pernollet, mit dem Denkmal von
Brillat-Savarin in unmittelbarer Nähe, hatte seinen guten Ruf wirklich
verdient. In seiner Art war es besser als die Kathedrale oder der Klosterhof
oder das alte Tor, so daß Julia vielleicht zu entschuldigen war, wenn sie es
allen dreien vorzog. Die Stunde, die sie mit Susan zusammen der Architektur
gewidmet hatte, war nicht gerade langweilig gewesen, war ihr aber doch sehr
lang vorgekommen, und während der letzten Viertelstunde hatten Julia die Füße
wehgetan. Einerseits hatte dies auch sein Gutes gehabt, denn, um sich auszuruhen,
hatte sich Julia freiwillig ganze zehn Minuten vor eines der bunten
Kirchenfenster gesetzt und dadurch sowohl das Erstaunen wie das Gefallen ihrer
Tochter erregt.
„Wir können ein anderes Mal wieder
hergehen“, schlug Susan ihrer Mutter vor. Aber weder ihre Überraschung noch
ihre Freude über Julias Interesse konnten ihren Hang zur Kritik dämpfen; als
sie fortgingen, zog sie in Gedanken einen ziemlich vernichtenden Vergleich
zwischen bunten Glasfenstern und den Gedichten von James Elroy-Flecker. Sie gehörten
beide zur „leichten“ Kunst; und genau so wie es im College Mädchen gab, die mit
Milton nichts anfangen konnten, sich aber für Hassan begeisterten, waren die
Augen ihrer Mutter der Schönheit eines gotischen Bogens verschlossen, aber
einem mit Rosen bemalten Fenster aufgetan. Susan war durchaus nicht so töricht,
Flecker und die Glasmalerei ganz zu verdammen; sie wußte, daß beide
vortreffliche Stufen zu einem höheren Kunstverständnis bildeten; sie weigerte
sich nur, irgendeine Verwechslung des Guten mit dem Besten zuzulassen.
Es war ein hübscher Vergleich und
bewies ein ganz Teil von Intelligenz; es war nur eines daran falsch, daß er
nämlich auf diesen Fall nicht anzuwenden war. Er war wie Susan selbst — stark,
was die Logik anbetraf, schwach in Menschenkenntnis. Er hatte Julias Füße nicht
mit in Betracht gezogen.
So gingen Mutter und Tochter die
Promenade entlang, Susan in Vergleichen denkend, während Julia an ihre Schuhe
dachte, bis sie die lange Fassade von dem Hotel Pernollet erreichten. Es
standen so viele Wagen davor, daß Julia ihrem Erstaunen darüber Ausdruck gab.
„Sie kommen von Aix“, erklärte Susan. „Die
Leute fahren zum Lunch herüber. Wenn Bryan nicht rechtzeitig dagewesen ist,
werden wir keinen Tisch bekommen.“
Bryan war jedoch schon eine halbe
Stunde da und nötigte gerade Mrs. Packett zu einem zweiten Aperitif. Julia
bekam auch einen; nach so viel Architektur, fand sie, hatte sie ihn verdient.
„Wir haben das Essen schon bestellt“,
verkündete Bryan. „Zum Nachtisch gibt es Walderdbeeren. Sie sind gerade zur
rechten Zeit dafür hergekommen, Julia. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie
Julia nenne — nur, um eine Verwechslung zu vermeiden?“
Julia blickte auf die alte Dame. Sie
selbst hätte es vorgezogen, Mrs. Packett genannt zu werden, es half ihr, sich
immer wieder ihrer neuen Rolle zu erinnern. Aber wenn der Verwechslungsgedanke
von ihrer Schwiegermutter stammte, ließ sich natürlich nichts dagegen sagen.
Bevor die alte Dame etwas sagen konnte,
hatte Susan den Vorschlag mit lebhafter Zustimmung aufgegriffen. Sie wollten
sie alle Julia nennen; und Julia wußte, warum. Damit sie mich nicht Mutter zu
nennen braucht, dachte sie enttäuscht. Ihre philosophische Gemütsart und das
Essen kamen ihr zu Hilfe. Schließlich war es nur natürlich; und mit einem guten
Essen vor sich und einem Restaurant voller Menschen, die sie betrachten konnte,
war es ihr nicht möglich, wirklich unglücklich zu sein. Die Gäste des Pernollet
waren außerdem tatsächlich sehenswert; da waren zunächst die ansässigen Bürger,
dickbäuchige Epikureer, denen nicht nur daran lag, möglichst gut, sondern auch
möglichst viel zu essen, und für die ein Besuch im Pernollet etwas war, auf das
sie sich schon tagelang vorher freuten und an das sie noch wochenlang nachher
zurückdachten; größtenteils saßen sie schweigend da und aßen
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