Die vollkommene Lady
Landschaften, und
dabei erwähnte ich Muzin. Und eine Woche später tauchte er hier auf.“
Julia sah ihre Tochter interessiert an.
Das Eis war gebrochen: Susan glühte geradezu. Wie hübsch sie ist, dachte Julia,
und sie fand es wundervoll, daß eine so geringfügige Ursache eine so große
Wirkung erzielen konnte. Aber zweifellos mußte ein solches Abenteuer einem
jungen Mädchen von Susans Art höchst romantisch und außergewöhnlich vorkommen—
sie hätte sich wahrscheinlich auf jeden Fall dabei verliebt. Und Bryan sah
überdies noch sehr gut aus. Das tut diese Sorte Mann immer, dachte Julia
unfreundlich. Laut sagte sie:
„Dann ist er ja schon fünf Wochen hier,
hat er denn gar nichts zu tun?“
„Er ist doch Anwalt“, sagte Susan
rasch. „Die können lange Ferien machen. Und bei ihm ist es noch etwas anderes,
weil er sich noch nicht niedergelassen hat. Und es tut ihm so gut!“
„Wo wohnt er denn hier?“
„Im Pförtnerhaus. Eigentlich gehört es
nicht mehr zur Villa dazu, sondern ist mit dem Weinberg verpachtet. Aber
Großmutter hat das in Ordnung gebracht.“
„Deine Großmutter?“ rief Julia erstaunt
aus. „Ohne etwas Genaueres über ihn zu wissen?“
Susan errötete von neuem.
„Das ist ja gerade das Schöne dabei:
sie wußte über ihn Bescheid. Bryans Vater — Sir James — kannte Großvater sehr
gut. Er ist sogar einmal in Barton gewesen. Es ist eine Ewigkeit her, ich
glaube, noch vor dem Krieg, aber Großmutter erinnert sich seiner noch genau.“
Julia öffnete den Mund, als ob sie
etwas sagen wollte, schloß ihn aber gleich wieder. So komisch es war, sie
erinnerte sich ebenfalls an Sir James.
*
Sie hatte noch eine ganz deutliche
Vorstellung von ihm. Selbst ohne die Augen zu schließen, konnte sie noch die
Garderobe in dem Frivolity-Palast vor sich sehen, eine von diesen altmodischen,
ziemlich schmuddeligen Künstlergarderoben — sechs Mädels darin in einem
malerischen Durcheinander, und auf dem einzigen Sofa eine breite, ruhende
Gestalt. Die Gestalt war die von Sir James. Die sechs Mädchen stritten darüber,
ob sie ihn hinauswerfen oder weiterschlafen lassen sollten. Julia, immer
gutherzig, war für das zweite gewesen. Sie hatte gemeint, daß er, wenn sie ihn
während des letzten Aktes hier ruhig liegenließen, nach Schluß der Vorstellung
sicher in der Lage sein würde, ohne fremde Hilfe aufzustehen. Und dann hatte
sich plötzlich über den teilnahmslos betrunken Daliegenden eine Streitfrage
erhoben: Julia, meinte eines der Mädchen, müsse immer ihre Mutterinstinkte
austoben, aber was würde geschehen, wenn dem Alten nachher die Brieftasche
fehlte? Woraufhin Julias Ohrfeige das Mädchen zielsicher auf Sir James’ Brust
warf.
Wahrhaftig ein tolles Bild! Und so
völlig verschieden von dem, das sie gerade vor Augen hatte, daß Julia plötzlich
an ihrer eigenen Identität zweifelte. Hatte sie damals wirklich an einer so
unfeinen Szene teilgenommen? Und doch fühlte sie heute noch die harte Pappe
ihres Bananenkopfschmuckes gegen ihre Ohren drücken. Aus irgendeinem längst
vergessenen Grunde hatten sie damals Tafelobst dargestellt, ihr Gegenüber trug
auf dem Kopf einen Korb mit Weintrauben, der sehr zerbrechlich war...
Das Merkwürdige war, daß Sir James gar
nicht davon aufwachte. Er streckte nur einen Arm aus, zog seine unerwartete
Bettgenossin zu sich und gab ihr eine etwas bequemere Lage. Er redete sie auch,
immer noch schlafend, mit Wendy an, und da dies der Name des Stars war, gab es
Anlaß genug zu allerlei Vermutungen und Verdächtigungen. Sie kamen zwanzig
Sekunden zu spät zu ihrem Auftritt und bekamen das noch tagelang vorgehalten...
Julia hatte daher allen Grund, ihren
Mund wieder zu schließen. Diese Erinnerung gab ihr auch allerlei zu denken.
Wenn an der Vererbungslehre etwas dran war, so warf diese Vaterschaft ein
bedenkliches Licht auf das Benehmen des jungen Bryan — ein Licht, das noch ganz
andere und fragwürdigere Charakteranlagen enthüllte als die Eigenschaften, die
auf Susan Eindruck gemacht hatten. Alle Männer dieser Familie, dachte Julia —
vielleicht ungerecht —, sind geborene Verführer. Wenn Bryan Susan auf einer
Gesellschaft kennengelernt hätte und von ihrer Großmutter eingeladen worden
wäre, würde er wahrscheinlich alles Interesse an ihr verloren haben; aber ihre
Bekanntschaft in einem Zuge zu machen und sie gerade dann aus den Augen zu
verlieren, als er Feuer gefangen hatte— das war etwas anderes. Für ihn hatten
die Umstände
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