Die vollkommene Lady
unentwegt in sich
hinein; und dieses Schweigen und die Tatsache, daß sie fast alle schwarz
gekleidet waren und unbegrenzte Mengen vertilgten, riefen irgendwie den
Eindruck hervor, als ob sie eine ansehnliche Erbschaft feierten. „Onkel Marius
hat seine Pflicht getan; wir wollen alle — Papa, Mama, Tante Mathilde und der
Herr Notar — ins Pernollet gehen und mal ordentlich schlemmen...“
Ebenso charakteristisch in ihrer Art
trotz des auffallenden Gegensatzes waren die Besucher aus Aix — junge Leute in
leichter, farbiger Sportkleidung, Herren in englischem Tweed, bildschöne
Frauen; wenn ihnen auch die bürgerliche Solidität fehlte, so fehlte ihnen
ebenfalls die Korpulenz — draußen in ihren Wagen lagen die Tennisraketts und
Golfstöcke, mit denen sie jeglichem Fettansatz vorbeugten. Sie aßen ebenso
sorglos, wie die Bürger achtlos aßen, und der Schatten Brillat-Savarins mußte
seine Freude daran haben.
„Ein großartiger Anblick, nicht wahr?“
murmelte Bryan Relton.
Julia nickte. Unter den Gästen befand
sich eine junge Frau, die ihre besondere Aufmerksamkeit erregte. Sie war so
auffallend gut angezogen und von so einer bewußt überlegenen Haltung sowohl
ihrem Begleiter als dem ganzen übrigen Publikum gegenüber, daß Julia sie die „Dame
mit dem Ekel“ getauft hatte. Sie trug einen weiten, weißen Automantel von
überaus elegantem Schnitt aus grobem Leinen, den sie — mit einem Ausdruck, als
wolle sie so viel Zwischenraum wie möglich zwischen sich und ihre Umgebung
legen — abzustreifen sich sträubte.
Julia bedauerte das, denn sie hätte
gern gesehen, was die „Dame mit dem Ekel“ darunter für ein Kleid trug, aber
diese Geste erfüllte sie mit Bewunderung. Eine Perlenschnur und weiße
Wildledersandalen waren der einzige sichtbare Schmuck der Dame. Einen Hut trug
sie nicht, entweder weil ihre blonden, zu griechischen Locken gedrehten Haare
zu schön waren, um bedeckt zu werden, oder aber, und das war wahrscheinlicher,
weil sie in ganz Frankreich keinen Hut hatte finden können, der sie nicht
entstellt hätte. Julia konnte sie sich deutlich bei der Putzmacherin denken,
wie sie einen Modellhut nach dem anderen beiseite warf und angeekelt aus dem
Modesalon hinausrauschte. Daß sie sich so benehmen konnte, war unschwer von dem
Gesicht ihres Begleiters abzulesen, dessen Ausdruck ständig zwischen Stolz und
Schuldbewußtsein wechselte. Er war ein netter kleiner Mann, so um die fünfzig,
aber er hatte keine andere Bedeutung, als der Begleiter der „Dame mit dem Ekel“
zu sein.
„Was für eine schreckliche Frau!“
flüsterte Susan.
Julia sah sich überrascht um. Sie fand
die Dame gar nicht schrecklich. Ein Vamp, natürlich — aber eine faszinierende
Frau!
„Die in dem weißen Mantel“, sagte
Susan.
„Ich finde den Mantel sehr hübsch“,
sagte Julia blöde.
Bryan lachte.
„Es war die allerbeste Butter“, sagte
er, und aus irgendeinem Grunde mußte Susan über diese idiotische Bemerkung hell
auflachen. Julia konnte nichts Witziges darin finden, war aber nur zu froh,
mitlachen zu können. Sonst hätte sie wahrscheinlich mit einer großen Erklärung
begonnen und sich selbst lächerlich gemacht: denn was sie eigentlich ausdrücken
wollte, war gleichzeitig so unklar und so kompliziert, daß sie es nicht in
Worte fassen konnte. Grob gesprochen hatte sie das Gefühl, daß die „Dame mit
dem Ekel“, mochte sie auch noch so unsympathisch und unnütz sein, die Welt zu
einem interessanteren Schauplatz machte. Sie gehörte zu den faszinierenden
Erscheinungen einer besonderen Menschengattung, genau so wie der Moskito eine
besonders faszinierende Insektenart ist. Den Ärger, den sie ihren Freunden
verursachte, machte sie durch das Vergnügen wett, das die Zuschauer an ihr
hatten. Kurz, auch sie hatte ihre Daseinsberechtigung. Die Welt ist von den
verschiedensten Lebewesen bevölkert, dachte Julia.
Aber es hatte keinen Zweck, Susan so
etwas zu sagen.
*
Denn Susan war ein Snob. Keiner von der
oberflächlichen Sorte, auch nicht einer von denen, die immer andere Leute zu
bekehren suchen, aber doch ein Snob, weil sie zu hohe Ansprüche stellte. Wie
alle gutgearteten jungen Menschen verlangte es sie nach Vollkommenheit. Die
Schwierigkeit war nur, daß sie einen ungewöhnlich hohen Maßstab an ihre
Mitmenschen anlegte. Unangreifbar in ihrer eigenen Unfehlbarkeit, verlangte sie
von anderen eine gleiche Feinfühligkeit und Geradheit. Wenn sie sie enttäuschten,
wollte sie nichts mehr mit
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