Die vollkommene Lady
unentbehrlich war, um
sich vor irgendwem zu fürchten, fragte Susan geradeheraus, ob Madame, ihre
Mutter, wohl eine Pistaziencreme mögen würde. Julia war über dieses Kompliment
nicht sonderlich erfreut — sie hatte das Gefühl, es unterstreiche zu sehr ihren
Hang zu den niederen Klassen — , aber sie nahm sich doch ein zweites Mal von
der Süßspeise, und wäre Bryan nicht gewesen, der schneller aß, hätte sie sich
auch noch ein drittes Mal genommen. Gesiegt, sagte der Blick, den Bryan ihr
zuwarf, aber Julia nahm keine Notiz davon. Es war bereits zu ihrer zweiten
Natur geworden, den Augen dieses jungen Mannes auszuweichen; sie fürchtete ihre
wachsame Intelligenz und ihr ständiges Fragen. Im Gegensatz zu den Wünschen ihrer
Tochter machte sie keinerlei Versuch, Bryan näher kennenzulernen; sie hatte
zuviel Angst, daß er sie selbst zu genau kennenlernen würde. Ihre Funktion in
Les Sapins war die einer dea ex machina und die Marke der Maschine vertrug
keine nähere Untersuchung.
Einen oder zwei Tage kann ich noch
abwarten, dachte sie, während sie sich mit einem leisen Unbehagen bewußt wurde,
daß sie ihre Pflichten vernachlässigte. Aber sie machte sich keine ernsthaften
Gedanken. Das lag ihrer Natur ohnehin nicht, und in dieser reinen, frischen
Luft, bei diesem ruhigen Leben mit all den regelmäßigen, köstlichen, üppigen
Mahlzeiten war es geradezu eine physische Unmöglichkeit. Und obwohl Susan und
Bryan offenbar sehr ineinander verliebt waren, hatte Julia doch keine Angst,
daß ihre beiderseitige Zuneigung plötzlich in glühende Leidenschaft ausarten
könnte.
Es ist noch nicht so eilig damit,
tröstete sich Julia. Ihr Gemüt war wie eine faule Katze, die sich auf einer
sonnigen Mauer rekelt. Es schnurrte förmlich. Aber ein kleiner Junge lag schon
auf der Lauer, um sie aufzuscheuchen.
*
„Was willst du heute nachmittag
anfangen?“ fragte Susan ihre Mutter nach dem Essen am vierten Tage ihres
Hierseins.
Julia, die ihre Antwort schon bereit
hatte, war sehr zufrieden, sie geben zu können.
„Ich werde mich auf die Terrasse setzen
und die ,Forsyte Saga“ lesen.“ Sie freute sich, daß Susan gefragt hatte; sie
wollte sich keineswegs damit brüsten, sie wollte es ihre Tochter nur wissen
lassen. Aber Susans Lächeln war weniger respektvoll als nachsichtig.
„Großmutter schwärmt für das Buch“,
sagte sie. „Du wirst einen sehr angenehmen Nachmittag damit verbringen.“
Nachdem sie auf diese Weise freundlich,
aber unleugbar zum alten Eisen geworfen worden war, begab sich Julia in einer
keineswegs für Literatur empfänglichen Stimmung auf die Terrasse; und
einerseits traf sich das auch glücklich, da der Nachmittag, so hübsch er war,
durchaus nicht friedlich für sie verlaufen sollte. Kaum hatte sie sich auf
einem Stuhl niedergelassen, als ihr künftiger Schwiegersohn erschien mit der
merklichen Absicht, sie zu stören, und auch unverhohlen sein Bedürfnis nach
einer Unterhaltung eingestand.
„Unterhalten Sie sich mit Susan“, wies
Julia ihn ab, „Sie sehen doch, daß ich lese.“
Er sah das Buch— wie sonderbar! — mit
genau demselben nachsichtigen Ausdruck an wie Susan, dann klappte er es einfach
vor ihrer Nase zu und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, ihr gegenüber auf
den Fußboden, so daß er ihr direkt ins Gesicht blicken konnte. Trotz ihres
Unwillens über sein unverschämtes Benehmen mußte Julia doch zugeben, daß er
ungewöhnlich gut aussah.
„Antworten Sie mir“, sagte er brüsk, „was
haben Sie gegen mich?“
Der Angriff kam so plötzlich, daß Julia
es vielleicht zum erstenmal an Geistesgegenwart fehlen ließ. Anstatt zu
protestieren, starrte sie ihn nur entgeistert an.
„Sie haben nämlich etwas gegen mich,
geliebte Julia“, fuhr Bryan hastig fort, „und es hat keinen Zweck zu behaupten,
daß ich mir das nur einbilde. Ich kann es fühlen. Wenn Sie irgend jemand anders
wären, würde ich glauben, Sie nähmen es mir noch übel, daß ich Ihnen am ersten
Morgen diesen Streich gespielt habe.“
„Unsinn!“ rief Julia verächtlich.
„Sehen Sie! Und es ist mir um so
unbegreiflicher, weil ich schon bei unserer ersten Begegnung das Gefühl hatte,
wir würden uns gut vertragen. Gleich als ich Sie gesehen hatte, dachte ich:
gut! Daß Sie beim Lunch etwas kurz angebunden waren, fand ich in der Ordnung,
weil ich es verdient hatte. Aber Sie sind die ganze Zeit über unfreundlich zu
mir gewesen, und das ist einfach unnatürlich.“
„Sie haben wohl eine sehr
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