Die vollkommene Lady
die Begegnung so reizvoll und Susan so begehrenswert erscheinen
lassen, weil sie das ersetzten, was ihr an Koketterie fehlte.
„Ich möchte, daß du ihn kennenlernst“,
sagte Susan ernsthaft. „Ich wollte, du sprächst selbst mit ihm. Dein Urteil
wird bei Großmutter viel stärker ins Gewicht fallen, weil sie glaubt, daß du
mehr Erfahrung hast.“
Der Blick, mit dem Julia ihre Tochter
ansah, war nicht nur zärtlich, sondern auch leicht irritiert. „Schon möglich,
daß ich welche habe“, sagte sie. „Man wird erst durch Erfahrung klug.“
„Aber einige Dinge braucht man nicht zu
lernen“, sagte Susan eifrig. „Die weiß man einfach. Willst du mit Bryan reden,
wenn ich ihn jetzt hole? Er ist bei den Weinstöcken.“
Julia nickte. Offensichtlich war der
Verlauf des Tages schon für sie vorgezeichnet — für sie und für jeden einzelnen
der Bewohner der Villa. Bryan erwartete sein Stichwort im Weinberg, Mrs.
Packett nahm ihren Lunch allein im Billardzimmer ein, genau, wie Susan sie
gebeten hatte. Nur Susan selbst schien Bewegungsfreiheit zu haben, und die
benutzte sie nun, um die wichtigste ihrer Marionetten aus den Kulissen zu holen
und sie in den Mittelpunkt der Bühne zu stellen.
Auftritt des jugendlichen Liebhabers,
dachte Julia, als sie beobachtete, wie Bryan allein die Treppe herunterkam. Da
ihr selbst nur die Rolle der Vertrauten zuerteilt worden war, verzichtete sie
auf Eleganz und machte es sich bequem, indem sie ihre Füße auf die niedrige Brüstung
legte.
*
Bewaffnet mit ihrer persönlichen
Erinnerung an Sir James, sah Julia der Unterredung vertrauensvoll entgegen.
Auch der junge Mann, als er nun ehrerbietig neben ihr Platz nahm, schien ganz
unbeschwert. Er hat dieselbe Gesichtsform wie sein Vater, dachte Julia und
erschrak selbst über ihre Voreingenommenheit. Warum sollte der Junge nicht
unbeschwert sein, wenn sein Gewissen rein war? Waren seine Absichten nicht
höchst ehrenwert? Wollte er Susan nicht heiraten? Ich kann mir nicht helfen,
ich kenne diesen Typ zu gut, ging es Julia durch den Kopf, und obwohl sie es im
Augenblick gar nicht beabsichtigte, kam sie so auf den Kernpunkt ihres
Mißtrauens zurück. Bryan wartete, daß sie den Anfang machte.
„Ich möchte Ihnen eine Menge
unangenehmer Fragen stellen“, sagte Julia liebenswürdig.
Die Haltung des jungen Mannes wurde,
soweit das überhaupt möglich war, noch ehrerbietiger als zuvor. Sie war fast zu
ehrerbietig, um echt sein zu können.
„Ich stehe Ihnen vollkommen zur
Verfügung, Mrs. Packett, vom Geburtsschein an bis zu einer Bankauskunft.“
„Darauf lege ich gar nicht so viel Wert“,
sagte Julia. „Das kann ich getrost Susans Vormündern überlassen. Aber, um
anzufangen, als Sie Susan im Zug trafen — wohin fuhren Sie da?“
„Nach Paris.“
„Wie lange hatten Sie sich in Straßburg
aufgehalten?“
„Zwei Tage.“
„Sind Sie direkt von England dorthin
durchgereist? Sie haben nicht zum Beispiel in Paris Station gemacht?“
„Keine Rede davon“, sagte der junge
Mann tugendhaft. „Ich habe meine Reise auch nicht eine Stunde unterbrochen.“
„Nun, es ist eine lange Fahrt für einen
Aufenthalt von nur zwei Tagen“, sagte Julia. „Und warum sind Sie nach Straßburg
gefahren?“
„Um Freunde zu besuchen.“
„Eine Freundin?“
„Ich kann es nicht leugnen— ja.“
„Und da sie anderweitig beschäftigt
war, kehrten Sie wieder um“, folgerte Julia.
Der junge Mann blickte sie interessiert
an.
„Hören Sie mal zu, Liebste“, — das ist
schon mehr sein Stil, dachte Julia — „es mag ja alles so gewesen sein, wie Sie
sagen, aber es hat doch nichts mit Susan zu tun.“
„Vielleicht nicht, vielleicht aber doch“,
sagte Julia. „Ich möchte nur die Tatsachen feststellen. Wollten Sie in Paris
bleiben oder weiterfahren?“
„Ich hatte mich noch nicht
entschlossen. Ich mache nie feste Pläne, wenn ich Ferien habe.“
„Das kann ich verstehen“, sagte Julia
nachdenklich. „Mir geht es genau so. Ich überlasse mich gern dem Zufall.“
Es entstand eine lange Pause, während
sie die alte Mrs. Packett langsam in der Sonnenglut vom Schatten des Hauses zum
Schatten der Pinien gehen sahen. Selbst in ihrem unkleidsamen schwarzen Kleid
und ihrer Wolljacke war sie so ganz Dame, daß Julia ihr einen Augenblick
nachsehen mußte.
„Nun schön“, sagte Bryan plötzlich, „ich
hatte tatsächlich nichts Besonderes vor. Aber als ich Susan nachreiste — Sie
glauben doch nicht etwa, daß ich nur auf
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