Die vollkommene Lady
keiner blieb lange beim Kaffee sitzen. Und Julia war so
erschöpft, daß sie sofort ihr Zimmer aufsuchte und zwei Stunden lang schlief.
Nach dem Tee lud Sir William sie alle
zu einer Fahrt ein. Susan saß vorn neben ihm, Julia mit Bryan und Mrs. Packett
im Rücksitz. Der Wagen war ein Gedicht, und sie bekamen viel von der schönen
Landschaft zu sehen. Dann fuhren sie zum Essen nach Hause, und hinterher
spielten sie Bridge.
Bryan — sein Benehmen war unberechenbar
wie eine Fieberkurve — schlug Poker vor, aber Julia fühlte sich verpflichtet,
ihn zu ducken. „Ich verabscheue Glücksspiele“, sagte sie tugendhaft, „ich
finde, sie verderben den Charakter.“ Sie spielten also mehrere Rubbers zu zwei
Pennys für hundert, und die alte Dame sah ihnen zu. Um halb elf gähnte Susan;
eine Viertelstunde später bediente Julia nicht richtig, und keiner außer Sir
William merkte es. Dann brachte Claudia den abendlichen Tee, und alle gingen zu
Bett.
„Ich bin so froh, daß Sir William
gekommen ist“, sagte Mrs. Packett zu Julia, als sie durch die Diele zu ihren
Zimmern gingen. „Dadurch wirst du es jetzt netter haben.“
Im Gegenteil, sagte Julia erbittert.
Aber sie sagte es nur zu sich selbst.
*
Am nächsten Morgen zeigte sich, daß
Susan recht behalten sollte. Das Wetter schlug um, und der Ausflug auf den
Grand Colombier wurde mit allgemeinem Einverständnis verschoben. Julia war
durchaus nicht traurig darüber. Es lag ihr nicht viel daran, wieder zwei
Stunden und womöglich noch länger eingezwängt zwischen Bryan und ihrer
Schwiegermutter hinten im Auto zu sitzen. Selbst in einem Daimler lohnte sich
das nicht. Doch kam ihr der Vormittag, nachdem der Plan ins Wasser gefallen
war, ungewöhnlich lang vor. Sie hätte sich gern wieder die Karten gelegt,
fürchtete aber, daß Sir William es sehen und sie deshalb verachten könnte.
Er wanderte etwas ziellos umher, erst
im Hause, dann durch den Garten. Susan hatte sich mit ihren französischen
Büchern zurückgezogen. Bryan ließ sich nirgends blicken, und Mrs. Packett war
im Billardzimmer eifrig mit einem Buch — höchstwahrscheinlich einem Kochbuch —
beschäftigt. Julia sah zu ihr hinein und lief schleunigst wieder weg.
Von der Halle aus sichtete sie Sir
Williams hohe Gestalt auf den Verandastufen. Er hatte wirklich eine fabelhafte
Figur und den geradesten Rücken, den Julia je bei einem Manne seines Alters
gesehen hatte. Einen Augenblick blieb sie ganz in Betrachtung versunken stehen.
Dann wandte sich Sir William um, und zwar so schnell, daß es ihr unmöglich war,
eine wirkungsvolle Pose einzunehmen. Aber gerade dadurch empfing er von ihr
einen unerwarteten und sehr reizvollen Eindruck. Denn Julia besaß, wenn sie
sich ganz ungezwungen gab, eine gewisse bezaubernde Einfalt. Sie stand da,
voller Bewunderung, mit dem glücklichen Ausdruck eines Kindes vor dem
Weihnachtsbaum.
„Kommen Sie mit mir auf den Felsen“,
forderte Sir William sie auf, „wir wollen uns Susans Wolken betrachten.“
„Warum nicht?“ sagte Julia. Aber als
sie neben ihm ging, fühlte sie sich ziemlich befangen. Sein Profil flößte ihr
noch immer so etwas wie Furcht ein, und ihr Bemühen, einen guten Eindruck auf
ihn zu machen, lähmte ihr die Zunge. Immerhin war die Gelegenheit in vieler Hinsicht
nicht so ungünstig. Da war wenigstens kein Bryan, der sie mit seinen allzu
wissenden Blicken aus der Fassung brachte oder ihr so auffällig beipflichtete,
wenn sie eine geistvolle Bemerkung zu machen versuchte.
„Mögen Sie Galsworthy?“ fragte Julia,
als sie den Aufstieg begannen.
Sir William erwiderte, er schätze ihn
sehr. Da sieht man’s ja, dachte Julia und wünschte nur, Susan hätte das gehört.
„Ich lese gerade die Forsyte Saga“,
fuhr sie fort. „Ich finde sie wundervoll.“
„Es ist wirklich ein ausgezeichnetes
Werk“, sagte Sir William, „besonders To Let.“
Da Julia noch nicht bis zu diesem Teil
vorgedrungen war — und wahrscheinlich nie dahin gelangen würde, weil noch mehr
als tausend Seiten dazwischen lagen —, erhielt sie einen kleinen Dämpfer. Aber
sie ließ sich nicht verblüffen.
„Ich mag den Man of Property besonders
gern. Ich finde ihn wundervoll.“
Sir William pflichtete ihr auch darin
bei. Ihre Unterhaltung war nicht gerade sehr lebhaft, aber höchst gewählt.
„Mistreß Packett sieht bemerkenswert
gut aus“, sagte Sir William.
„Nicht wahr?“ sagte Julia.
Es war überraschend, wie schnell ein
Gesprächsthema sich erschöpfte.
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