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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
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Liebenden vorzufinden, verblaßt, aber
noch erkennbar, vielleicht auch einen kleinen Amor oder etwas Ähnliches. Vor
allem hatte sie insgeheim gehojft, irgendeinen Hinweis zu entdecken, daß der
Pavillon unlängst noch benutzt worden war: ein Kissen, einen Brief oder auch
nur ein in die Wand geritztes Herz. Das alles hätte sie erfreut und befriedigt.
Aber nichts dergleichen war da. Nicht einmal die Aussicht konnte man genießen,
weil die Nußbäume zu dicht davor standen. Es ist eine Schande, dachte Julia
flüchtig und empfand sowohl für irgendeinen anderen Besucher, der gleich ihr
enttäuscht sein würde, wie für den Pavillon selbst lebhaftes Mitgefühl. Und aus
einer unbestimmten Rührung heraus nahm sie mit einem plötzlichen Entschluß
ihren Lippenstift in die Hand und malte damit ein Herz an die Wand.
    Kaum war sie damit fertig, wurde sie
durch das Geräusch von Stimmen unten aus dem Garten aufgescheucht und eilte zur
Tür. Es kamen Menschen den Weg herauf, Susan, Bryan und ein großer, unbekannter
Herr. Er hatte graues Haar und hatte beim Gehen seine Hand leicht und vertraut
auf Susans Schulter gelegt. Susan, die neben ihm kleiner als sonst wirkte, sah
zu ihm auf und lächelte ihn freudig an. Bryan, der etwas hinter den beiden
ging, trug eine überaus höfliche Miene zur Schau.
    Sir William war angekommen.
     
    *
     
    Julia wollte möglichst unbemerkt ins
Haus zurückkehren, sich etwas auffrischen und dann wieder in den Garten gehen,
um dort von den anderen entdeckt zu werden; und da der Weg bei den Nußbäumen
plötzlich abbog, durfte sie auch hoffen, ihre Absicht ausführen zu können. Aber
Bryan, der sowieso hinterher bummelte, ließ die anderen noch weiter
vorausgehen, bis sie außer Sicht waren, und bückte sich, um sein Schuhband
festzumachen.
    „Sst! Julia!“ flüsterte er.
    Mit so viel Würde, wie sie nur auf
bringen konnte, trat Julia an die oberste Treppenstufe.
    „Was tun Sie denn hier?“ fragte sie streng.
    „Dasselbe könnte ich Sie auch fragen.
Ich habe Sie gesehen, als wir heraufkamen, und dachte mir schon, Sie wären
nicht gesellig gestimmt.“
    „Das war ich auch nicht“, sagte Julia
abweisend, „ebensowenig wie jetzt. Ist das Sir William?“
    „Jawohl, meine Liebe. Die Runde der
Götter hat Zuwachs erhalten. Kann ich Ihnen beim Heruntersteigen behilflich
sein?“
    Aber Julia wies seine Hilfe zurück und
stieg allein die Stufen hinab. Sie wollte durch ein Geplänkel mit Bryan keine
Zeit verlieren.
    „Gehen Sie nur wieder zu den anderen“,
befahl sie, während sie den Weg nach unten einschlug. „Ich habe einen wichtigen
Brief zu schreiben.“
    „Hallo, Julia!“
    Nur, damit er nicht weiter schrie,
drehte sie sich um und sah zu ihm zurück.
    „Was wollen Sie denn noch?“
    „Wenn Sie Ihren Brief geschrieben — und
sich umgezogen haben — wo möchten Sie dann gern von uns entdeckt werden}“
    Julia hatte große Lust, seine Frechheit
einfach zu überhören. Aber sie tat es nicht. „Unter den Pinien“, sagte sie
hastig, „und nicht vor einer halben Stunde!“
     
    *
     
    Genau fünfundzwanzig Minuten später war
sie bereit. Sie hatte ein sauberes weißes Kleid an und nicht zuviel Rot
aufgelegt. Auf ihren Knien lag die „Forsyte Saga“. Sie hätte gern einen Hund
neben sich gehabt, aber es gab keinen in der Villa, und Anthelmines Katzen
sahen zu gewöhnlich aus.
    Die Zeit verging sehr langsam, und es
fiel Julia schwer, in ihrer Pose zu verharren. Sie wagte nicht, sich
zurückzulehnen, um ihr Kleid nicht zu verdrücken. Obwohl mehrere Liegestühle
dastanden, hatte sie es vorgezogen, sich auf der Holzbank niederzulassen, weil
sie das malerischer fand. Wie schon einmal, auf der unteren Terrasse, war Julia
sich deutlich des reizvollen Eindrucks bewußt, den ihre Erscheinung hier im
Garten hervorrufen mußte. Wenn jetzt ein Mann da wäre, hatte sie damals
gedacht, und nun einer da war, hatte sich ihre Stimmung entsprechend gehoben.
Gespannt lauschte sie auf die Stimmen im Weinberg, und als sie verständlich
wurden, waren sie schon viel näher, als sie geglaubt hatte, daß ihr kaum eine
halbe Minute Zeit blieb, um sich in ihr Buch zu vertiefen.
    Die kleine Gesellschaft da oben konnte
sie nun deutlich sehen, und Susan rief ihr fröhlich etwas zu. Julia rührte sich
nicht. Sie wollte plötzlich überrascht aufblicken, aber erst, wenn sie alle
unmittelbar vor ihr standen. Sie wendete eine Seite ihres Buches um und
lächelte amüsiert, als ob sie gerade eine feinsinnige literarische

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