Die vollkommene Lady
Julia, die nun eigentlich wieder an der Reihe
war, zerbrach sich vergeblich den Kopf. Natürlich hätte sie das Gespräch auf
das ergiebige Thema von Susans Heirat bringen können, aber ehe sie Sir William
besser kannte — ehe sie sich ihres guten Eindrucks auf ihn sicher war —, zog
Julia es vor, es noch unberührt zu lassen. Er war ein zu wichtiger Verbündeter,
als daß man sich ihm ganz ohne Vorsicht nähern durfte.
„Gefällt Ihnen Aix?“ fragte Sir
William.
„Nein, gar nicht“, sagte Julia
unbedacht. „Das heißt, ich bin noch gar nicht dagewesen“, fügte sie hastig
hinzu. Sir William war zu höflich, um diesen Widerspruch zu bemerken, aber
infolgedessen ließ sich auch zu diesem Thema nichts mehr sagen.
Eine Weile stiegen sie schweigend
weiter, und bald hätte Julia auch nicht reden können, selbst wenn sie einen
Gesprächsstoff gefunden hätte. Sie brauchte ihren ganzen Atem, um nicht keuchen
zu müssen. Sir William wischte sich mit männlicher Unbekümmertheit die Stirn.
Julia bemühte sich vergeblich, ihre Poren zusammenzuziehen. Als sie am Fuße des
Felsens angelangt waren, bedauerte sie vor allem, daß sie ihre Puderdose nicht
bei sich hatte.
„Heiß, nicht wahr?“ japste sie, als sie
einen Augenblick ausruhten. Sie fühlte, wie ihr das Blut in den Adern klopfte
und das Haar an den Schläfen klebte. Es würde sie sehr erstaunt haben, zu
hören, daß Sir William sie in diesem Zustand äußerst anziehend fand. „Blühend“,
hatte Mrs. Packett geschrieben — geradezu strahlend, ergänzte Sir William. Er
dachte, daß er Julias Gesellschaft wirklich sehr genießen würde, wenn sie nur
aufhören wollte, diese höfliche Konversation zu machen.
„Ich schwärme für eine schöne Aussicht“,
sagte Julia, nachdem sie sich verpustet hatte. Sie blickte entzückt in die
Weite: die Wolken hatten sich rings um die Hügel zusammengezogen und lagen wie
eine Haube auf ihren Gipfeln. Durch ihre jeweils entstehenden Lücken brach
jedoch noch immer die Sonne hindurch und beleuchtete hier ein Dorf, dort einen
Hang. Magnieu lag im Schatten, die Dächer von Belley glänzten im Sonnenlicht.
Wo lag nun eigentlich das so oft erwähnte Midi? fragte sich Julia, aber sie
wollte ihre Unwissenheit nicht durch eine direkte Frage preisgeben. Statt
dessen fragte sie Sir William, was er von dem Wetter hielte.
„Es ist jedenfalls umgeschlagen“,
meinte er, „aber ich habe nicht Susans Lokalkenntnisse. Falls wir ein Gewitter
bekommen, kann es schlimm werden. Haben Sie Angst?“
„Nicht im geringsten“, log Julia.
Gewitter waren ihr furchtbar, und wenn es mitten in der Nacht losging und sie
allein war, meinte sie jedesmal vor Angst sterben zu müssen. Luise ging es
genau so — nur daß sie durch ihre Tatkraft, die wohl irgendwie mit dem roten
Haar zusammenhing, die Aufregung dieses Naturereignisses auszunutzen verstand.
Sie pflegte in ihrem schönsten Nachtgewand hinauszurennen und kam dabei immer
auf ihre Kosten. Ich werde für alle Fälle gleich mein rosaseidenes anziehen,
dachte Julia. Nachher bringe ich es vor lauter Angst doch nicht fertig... Sie
erschauerte im Vorgefühl.
„Sie werden sich erkälten“, sagte Sir
William. „Es ist hier oben windiger, als man denkt.“
Er drehte sich um und stieg den Weg
wieder abwärts, und Julia folgte ihm willig. Es tat so wohl, jemand zu haben,
der einem die Zweige auseinanderbog und einem die Hand gab, wenn der Weg
schwierig wurde. Aber die Verpflichtung — denn als eine solche faßte sie es auf
—, höflich Konversation zu machen, bedrückte sie noch immer. Sir William hatte
offensichtlich das Handtuch in den Ring geworfen. Sie legten zwei Drittel des
Weges in völligem Schweigen zurück. Als sie jedoch bei den Nußbäumen unterhalb
des Pavillons um die Ecke bogen, fiel Julia eine komische Erinnerung ein, und
gedankenlos gab sie sie zum besten.
„Ich hatte
einen kleinen Nußbaum“,
zitierte Julia plötzlich,
„und nichts er
tragen wollt’
als eine
Muskatnuß aus Silber...“
Sie brach ab und kam sich sehr kindisch
vor, aber Sir William stand da und lächelte ihr zu.
„und eine Birne aus Gold“,
schloß er. „Sie haben die wundervolle
Gabe, die Stimmung des Augenblicks vollkommen zu machen.“
Julia verstand nicht ganz, was er damit
sagen wollte, fühlte sich aber dennoch geschmeichelt. Ihre Befangenheit wich,
und aus einem plötzlichen Impuls heraus sagte sie unüberlegt: „Wissen Sie auch,
wer mich das gelehrt hat? Ein Clown!“
„Zirkus oder
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