Die vollkommene Lady
Bemerkung
gelesen hätte.
„Hallo, Julia!“ rief Bryan, schon ganz
dicht neben ihr.
Bei diesem Anruf fuhr Julia wirklich in
die Höhe, denn Bryan hatte die letzte Steigung des Weges mit einem Satz
übersprungen und ihr seine Worte direkt ins Ohr geschrien. Sie schenkte ihm
einen freundlichen Blick und wandte sich mit einem bewillkommnenden Lächeln
Susan und ihrem Gast zu, die in einem gemäßigteren Tempo näher kamen.
„Dies ist Sir William — meine Mutter“,
sagte Susan und sah dabei Bryan vorwurfsvoll an. Es war Pech für den jungen
Mann, daß die wiedergewonnene Gunst seiner Angebeteten sofort den gleichen
Übermut in ihm auslöste, durch den er sie sich schon einmal verscherzt hatte.
Wie Susan ihm selbst gesagt hatte, sie konnte sich nicht verstellen. Sie konnte
nicht vortäuschen, Gefallen daran zu finden, daß er den Abhang
hinuntergesprungen war und ihre Mutter gerade in dem Augenblick erschreckte,
als Sir William ihr vorgestellt werden sollte.
Julia merkte von all dem nichts. Sie
war viel zu sehr mit ihrer Haltung beschäftigt — und die war großartig. Sie
neigte anmutig den Kopf, streckte anmutig ihre Hand aus, rückte ein wenig zur
Seite und bat Sir William, Platz zu nehmen.
„Nehmen Sie lieber einen Liegestuhl, Sir“,
riet Bryan boshaft. „Die Bank ist hart wie Stein.“
Aber Sir William setzte sich neben
Julia. Er war groß und schlank, sonnengebräunt, mit ziemlich dichtem grauem
Haar, und hatte ein Profil, das sie besonders liebte. Hakennasen waren ihre
Schwäche, und die von Sir William war ein richtiger Adlerschnabel. Vornehm,
dachte Julia nach ihrem ersten verstohlenen Blick auf ihn. Man könnte ihn ohne
weiteres für einen Diplomaten halten!
„Was für ein schöner Erdenwinkel ist
das hier!“ äußerte Sir William anerkennend.
„Ja, wunderschön“, stimmte Julia bei. „Haben
Sie viel für die Natur übrig?“
Sir William bejahte das. Er fügte
hinzu, daß er viel von der Landschaft zu sehen hoffe, da er seinen Wagen
mithabe. Wenn morgen schönes Wetter wäre, könnten sie alle im Auto auf den
Grand Colombier fahren und oben zu Mittag essen. Von dort aus würden sie die
Rhône und den Montblanc deutlich sehen können.
„Was für einer ist es?“ erkundigte sich
Julia.
Da Sir William etwas verdutzt aussah,
war es vielleicht gut, daß Bryan statt seiner antwortete.
„Ein dunkelblauer Daimler“, sagte et
kurz. „Ich hoffe, Sir, das Scheunendach ist dicht.“
„Das hoffe ich auch“, entgegnete Sir
William mit philosophischem Gleichmut, „aber ich fürchte, jede Scheune, dievon
einem Franzosen nicht mehr benutzt wird, hat irgendeinen Defekt. Immerhin
scheint das Wetter beständig zu sein.“ Susan blickte zu dem blauweißen Himmel
auf. „Die Wolken kommen von Süden“, sagte sie, „das ist kein gutes Zeichen.
Julia hat gerade die schönste Woche dieses Sommers erwischt.“
Diese letzten Worte empfand Julia in
Verbindung mit den Schicksalsschlägen, die sie sich selbst aus den Karten
geweissagt hatte, als verhängnisvoll. War es möglich, daß die Ankunft Sir
Williams, von dessen Kommen sie sich soviel versprochen hatte, ihren Frieden
und ihr Glück in ihrer Eigenschaft als der jungen Mrs. Packett bedrohte? Würde
er sie durchschauen wie Bryan und sie — im Gegensatz zu Bryan — bloßstellen und
vertreiben? Seine scharfen Gesichtszüge sahen selbst in der Ruhe schrecklich
energisch aus — wie würde er erst aussehen, wenn er vor berechtigter Empörung
in Zorn geriet? Großartig, dachte Julia unwillkürlich, denn Sir William hatte
es ihr bereits sehr angetan. Sie glich einem Schiffer in einem kleinen Boot,
der, obwohl er sich vor dem aufkommenden Sturm fürchtet, den Anblick des
tobenden Ozeans genießt. Sir Williams Zorn würde zwar schrecklich sein, aber
sicherlich wäre es ein großartiger Anblick. Bis jetzt habe ich mich, alles in
allem, immer noch richtig benommen, dachte sie, sich zusammenreißend. Ich muß
nur den Kopf oben behalten...
Sie sprach deshalb während des Essens
kaum ein Wort. Sie wischte sich vor wie nach dem Trinken den Mund, nahm sich
nicht zum zweitenmal und war sehr aufmerksam gegen Mrs. Packett. Bryan benahm
sich nach seiner Entgleisung ebenfalls tadellos, und auch er verhielt sich sehr
schweigsam. Die alte Dame und Susan unterhielten sich mit Sir William über
gemeinsame Bekannte — von denen einige zu Julias Entzücken hohe Titel hatten —
und über seine Autofahrt durch Frankreich. Infolgedessen verlief die Mahlzeit
etwas eintönig,
Weitere Kostenlose Bücher