Die vollkommene Lady
erzählte ihm natürlich nicht alles — sie erwähnte Mr. Rickaby
überhaupt nicht und erklärte ihren Wunsch, das Kasino aufzusuchen, lediglich
mit dem Verlangen, einmal wieder andere Luft zu atmen — aber sie schilderte ihm
genau ihren Überfall auf das Auto und erzählte ihm fast alle Geschichten von
dem verlorenen Schaf und ihrer Kindheit in Yorkshire, mit denen sie die
hilfsbereiten Misses Marlowe so bestrickt hatte.
Sir William schien ihren Bericht
äußerst unterhaltsam zu finden, und mit zunehmendem Vertrauen ging Julia
allmählich zu anderen und nicht minder amüsanten und abenteuerlichen Episoden
ihrer Vergangenheit über. Zum ersten Male seit ihrer Ankunft in Muzin war sie
ganz sie selbst. Sie hatte alle Vorsicht außer acht gelassen und machte sich
sogar keinerlei Gedanken mehr darüber, ob sie sich nun wie eine Dame benahm
oder nicht. Ein köstliches Wohlgefühl durchdrang sie; sie stützte gleichsam
nicht nur physisch, sondern auch psychisch die Ellbogen auf. Denn Sir William
war durchaus nicht entsetzt, im Gegenteil, er war aufs höchste amüsiert. Er
fand offenbar Gefallen an ihr und freute sich an ihrer Gesellschaft, genau so
wie irgendeiner von ihren anderen Freunden, als ob er gar keinen Titel hätte.
Wenn die Packetts sie doch nur so sehen könnten...
„Mein Gott!“ rief Julia plötzlich aus. „Sie
werden doch den anderen nichts davon erzählen?“
„Natürlich nicht, wenn Sie es nicht
wünschen“, versprach Sir William. „Aber warum eigentlich nicht?“
„Warum nicht?“ Julias runde, dunkle
Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Weil — weil sie glauben, daß ich eine Dame
bin.“
„Das sind Sie auch“, sagte Sir William.
Sie hätte ihm dafür um den Hals fallen
können, aber sie wußte, es war nur seine Nettigkeit.
„Nein, keine richtige Dame. Nicht so
wie Susan. Wenn ich auch nicht gerade ordinär bin, so muß ich doch aufpassen,
ob ich mich auch immer richtig benehme. Und Bryan— einerseits bin ich froh, es
Ihnen jetzt sagen zu können — hat mich gleich durchschaut.“
Sir William runzelte die Stirn und sah
auf einmal wieder ganz wie ein Aristokrat aus.
„Dieser junge Mann!“ sagte er zornig. „Wenn
er etwa unverschämt zu Ihnen —“
„Nein“, rief Julia. „Es ist nur — daß
er mir in gewisser Hinsicht ähnlich ist, und — und deshalb darf er Susan nicht
heiraten. Ich konnte bisher nicht darüber zu Ihnen sprechen, weil ich mich selbst
nicht bloßstellen wollte. Aber Sie denken doch auch, daß Susan ihn besser nicht
heiraten sollte, nicht wahr?“
„Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen
soll, meine Liebe“, sagte Sir William zu ihrer Überraschung, „ich habe nicht
viel darüber nachgedacht. Ich mag Susan sehr gern, natürlich, und ich werde
mein möglichstes tun, um zu verhindern, daß sie an einen Taugenichts gerät;
aber ich habe sie niemals besonders interessant gefunden.“
Es wurde bereits erwähnt, daß Julias
mütterliche Gefühle ziemlich unbeständig waren. Eine Minute früher hätte ein
solch abfälliges Urteil über ihre vollkommene Tochter Julia bis zur Weißglut
gereizt; wie eine Löwin hätte sie jeden, der es gewagt hätte, das von ihrer
Tochter zu sagen, böse angefunkelt, und wie eine Löwin hätte sie sich auf ihn
gestürzt. Aber zwei Worte von Sir William hatten, in den allerletzten Sekunden,
alles geändert. Er hatte sie „meine Liebe“ genannt! — und diese beiden Worte
waren ihr so tief ins Herz gedrungen und hatten sich dort so fest eingegraben,
als ob sie alle früheren Inschriften auslöschen wollten. Julia liebte ihre
Tochter nach wie vor, aber Sir William betete sie an; und es kam ihr nicht in
den Sinn, gegen sein Urteil zu protestieren.
„Ich kam nur aus einer Art
Pflichtgefühl hierher“, fuhr Sir William nachdenklich fort, „aber ich bin sehr
froh, daß ich es getan habe!“ — „Ich auch“, sagte Julia.
Gerade in diesem Augenblick kam Mr.
Rickaby mit seiner neuen Freundin auf dem Wege zur Tür, die in den Garten
führte, an ihrem Tisch vorüber. Er sah Julia, und Julia sah ihn; aus der Fülle
ihres glücklichen Herzens schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln. Es war
unwiderstehlich in seiner Herzlichkeit und Wärme, und Mr. Rickaby lächelte
verzeihend zurück. Auch die letzte kleine Unebenheit von Julias Gewissen war
damit geglättet; sie verließ das Restaurant im besten Einvernehmen mit sich und
der ganzen Welt.
Der Rest des Nachmittags verging wie
ein schöner Traum. Sie machten eine lange Spazierfahrt —
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