Die vollkommene Lady
„Teufel auch! Wie — äh — in welcher —?“
„Was denken Sie denn?“ sagte Julia. „Ich
weiß zwar nicht, wie er in seinem eigenen Hause gewesen ist, aber in einer
Theatergarderobe war er nur mit Vorsicht zu genießen.“
„Und die Sünden der Väter sollen an den
Kindern heimgesucht werden“, sagte Bryan. „Sie haben mich also auch noch mit
ihm belastet, Julia?“
„Nein, das habe ich nicht. Ich weiß,
daß das nichts zu bedeuten braucht: nehmen Sie nur Susan und mich. Aber ich
hätte von Anfang an dieselbe Meinung über Sie gehabt, auch wenn Ihr Vater ein
Bischof gewesen wäre.“
Schweigend gingen sie einige hundert
Schritte weiter und mußten sich dann an die Hecke drücken, um einen
entgegenkommenden Ochsenkarren vorbeizulassen. Als er vorübergefahren war,
blieb Bryan plötzlich an dem nächsten Gattertor stehen. „Ist es irgendeinem von
euch schon mal in den Sinn gekommen“, fragte er, den Rücken an den Türpfosten
gelehnt, die Hände in den Hosentaschen, „daß ich es eines Tages satt kriegen
könnte, ewig belehrt und getadelt zu werden?“
Julia schluckte die nächstliegende
Antwort hinunter. Sie war überzeugt, daß er in dieser Stimmung ihren eigenen
Absichten am ehesten gefügig sein würde. „Sie werden noch eine ganze Menge
Belehrungen zu hören bekommen, bevor wir mit Ihnen fertig sind“, sagte sie
munter. „Begleiten Sie mich zur Post oder ziehen Sie es vor, zu schmollen?“
Bryan überlegte. „Ich glaube, ich würde
mich am liebsten betrinken“, sagte er dann. „Ich begleite Sie nach Magnieu und
betrinke mich da. Dann bleibt mir gerade noch Zeit, um meinen Rausch vor dem
Abendessen auszuschlafen.“
„Wenn ich etwas verabscheue“, sagte
Julia, „so ist es Ihre Angeberei. Sie werden sich jetzt auf dem schnellsten
Wege nach Hause begeben, oder — oder ich sag’s Susan.“
Er ging. Mit einem letzten beleidigten
und vorwurfsvollen Blick machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück,
während Julia ihren Weg nach Magnieu fortsetzte. Es war ihr erster
Erpressungsversuch, und im Gegensatz zu Mr. Rickabys Geld bedrückte er ihr
Gewissen in keiner Weise.
16
E s war schon vierzehn Tage her, seit
Julia zum letztenmal ihre Haare gewaschen hatte. Da sie dunkel war, konnte sie
sogar drei Wochen von Mal zu Mal verstreichen lassen, ohne ungepflegt
auszusehen. Aber seit der Ankunft von Sir William fand sie Gepflegtsein allein
trotz ihres Entschlusses, ihm keine Beachtung zu schenken, nicht genug. Sie
wollte sich eine anständige Wasserwelle mit viel Brillantine legen lassen. Nach
einem vergeblichen Bemühen, von Claudia, deren Frisur 1890 modern gewesen sein
mochte, irgendwelche Auskünfte zu erlangen, suchte Julia ihre Tochter im Garten
auf und störte sie bei ihren morgendlichen französischen Studien.
„Wo läßt du eigentlich dein Haar
waschen, Susan?“
„Hier? Hier wasche ich mir’s selbst.“
Julia betrachtete das weiche, helle
Haar ihrer Tochter mit seiner Naturwelle und lächelte neidisch. „Du kannst dir
das ja leisten, aber ich mit meiner Dauerwelle! Bei mir würde es niemals
sitzen. Es wird doch in Belley einen Frisör geben?’ „Sogar zwei oder drei“,
bejahte Susan. „Wenn du willst, werde ich mich morgen nach ihnen erkundigen,
wenn ich meine Besorgungen mache.“
„Ich möchte mir sie aber so gern schon
heute waschen lassen“, sagte Julia ungeduldig. Sie hatte gar keinen Grund zu
der Annahme, daß Sir William kritischer sei als die meisten anderen Männer,
aber er sah selbst immer so tadellos gepflegt aus — wie sie gerade jetzt wieder
Gelegenheit hatte festzustellen, denn Sir William war zu ihnen getreten und
hatte Julias letzte Worte noch gehört.
„Kann ich irgend etwas für Sie tun?“
fragte er.
„Ach, es ist nur mein Haar“, sagte
Julia, „ich möchte es mir waschen lassen. Ich werde es mal in Belley versuchen.“
„Ich fahre Sie im Wagen hinüber“, erbot
sich Sir William.
Julia strahlte vor Dankbarkeit. Er
mußte sie demnach schon recht gern haben — denn im allgemeinen fanden Männer es
gräßlich, eine Frau zum Frisör zu begleiten, weil sie dann immer so lange
warten mußten...
„Vor dem Essen werdet ihr keine Zeit
mehr haben“, warf Susan ein. „Es ist schon fast halb eins.“
„Wir essen dann eben in Belley“, sagte
Sir William. „Wir fahren hin, melden Julia beim Frisör an, essen, und danach
kann Julia sich schön machen lassen. Einverstanden?“
„Großartig!“ rief Julia, ganz
überwältigt
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