Die vollkommene Lady
zu gucken. Und die Ausdrucksfähigkeit ihres Gesichts war
so einzigartig — so voll unverhohlener gesunder Neugierde und, nach einigen
Tagen, so voll freimütiger, verstehender Glückwünsche —, daß Julia sie nicht
anzusehen wagte. Schließlich bat sie Sir William, die Stühle auf die zweite
Terrasse unter dem Wein zu tragen; aber Anthelmine folgte — mit ein paar
besonders schönen Radieschen — und ließ es sich nicht nehmen, noch unangenehmer
aufzufallen, indem sie Sir William auf französisch ansprach.
„Was hat sie gesagt?“ fragte Julia
nervös.
„Pflücket die Rose, solange das
Lämpchen noch glüht“ —, erwiderte Sir William, „aber es fällt ihr doch schwer,
hier heraufzuklettern.“ Danach nahm sich Julia vor, mehr Diskretion zu wahren;
aber es war schon zu spät. Obgleich es ihrer aufs äußerste geschärften
Selbstdisziplin gelungen war, drei Viertel ihrer Gefühle zu verbergen, war ihre
restlose Bewunderung für Sir William doch zu groß, als daß das restliche
Viertel nicht genügt hätte, um Bryan auf die Spur zu setzen. „Wie heißt
Liebesnest auf französisch?“ fragte er Susan. „Nid d’amour?“
Susan, die gerade mit einer
Übersetzungsarbeit beschäftigt war, griff automatisch nach dem Lexikon, aber
ließ die Hand dann auf dem Buch liegen.
„Nein, es wird wohl anders heißen“,
sagte sie ernsthaft. „Solche Ausdrücke sind überhaupt furchtbar schwer zu
übersetzen. Wozu willst du es wissen?“
„Ich möchte unten am Tor ein neues
Schild anbringen; es wird bald Zeit, daß das Haus umgetauft wird. Du willst
doch nicht behaupten, daß du noch nichts gemerkt hast?“
„Was gemerkt?“
„Na, Julia und Onkel William natürlich.
Unser neues romantisches Paar.“
„Unsinn“, sagte Susan zurechtweisend.
„Durchaus kein Unsinn, Geliebte. Die
Augenblicke, in denen sie nicht zusammen sind, kann man zählen.“
Susan legte den Federhalter hin und
runzelte die Stirn. „Onkel William ist einfach freundlich zu ihr, wie ich ihn
gebeten habe, und Julia macht es natürlich Spaß, ein wenig Gesellschaft zu
haben. Das ist alles, Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du nicht solchen Unsinn
reden würdest.“
Bryan setzte sich auf den
aufgeschlagenen Racine. Diese Reaktion auf seine Worte war ihm vollständig
schleierhaft. Es fuhr ihm plötzlich durch den Kopf, daß Susan bemerkenswert
häufig, wie die alte Königin Victoria, zu denken schien: Ich bin nicht
belustigt. Verdammt nochmal! Es war doch erheiternd — zum mindesten doch höchst
interessant, den ehrbaren, feinsinnigen Sir William in den Netzen Julias, der
lieben, alten guten Julia, zappeln zu sehen...
„Sie ist natürlich mal ganz was anderes“,
spann er seine Gedanken laut weiter. „Ich möchte zu gern wissen, ob sie ihn
Bill nennt!“
„Ich verabscheue Klatsch“, sagte Susan
plötzlich. „Du bist genau wie diese Weiber im College, die nichts Besseres zu
tun haben, als herumzurennen und jedem mitzuteilen, daß die mit dem Kaffee und
der mit jener Tee getrunken hat. Das ist —
das — es „
„Ich weiß“, sagte Bryan. „Es beleidigt
die menschliche Würde.“
Susan sah ihn erstaunt an. „Ja. Aber
wenn du das Gefühl hast, warum tust du’s dann?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht zunächst,
weil ich keine übergroße Meinung von dieser Würde habe. Und dann andererseits
halte ich wieder sehr viel von ihr als gutem Witz.“
„Mehr nicht?“
„Mehr nicht“, bestätigte Bryan
fröhlich.
Im nächsten Augenblick brachte ihn
Susans Gesicht auf die Knie an ihre Seite.
„Außer dir, Liebste! Du bist das einzig
Wichtige! Du bist mein alles, meine ganze Welt!“
Aber während er noch sprach, während er
Susans Hand sich auf seinen Kopf legen fühlte, konnte er den Gedanken nicht
unterdrücken, ob wohl Sir William auch so zu Julia sprach.
*
Das tat Sir William nun nicht,
wenigstens nicht bis dahin. Das zweite Liebespaar bewegte sich auf einem höchst
unorthodoxen Liebespfad: wenn Sir William mit Julia allein war, füllten sie die
meiste Zeit mit Lachen aus. Der Lunch im Pernollet hatte ihr dazu verholfen,
jegliches Gefühl von Gehemmtsein ihm gegenüber zu verlieren. Sie sagte, was ihr
gerade einfiel, machte ihn ungescheut mit der Horde ihrer alten Bekanntschaften
vertraut und würzte ihre Unterhaltung noch mit Bonmots, die unzweifelhaft
Künstlerkneipen entstammten. Und Sir William war ihrer Offenheit würdig. Der
häufig wiederkehrende Name Mr. Macdermots zum Beispiel erregte keinerlei
übermäßige
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