Die vollkommene Lady
Neugier in ihm, und er fragte nicht einmal andeutungsweise, warum
denn Julia, mit ihrer festen Rente, grundsätzlich nur von der Hand in den Mund
gelebt hatte. Dies letztere fiel Julia als besonders taktvoll auf, und es
rührte sie so sehr, daß sie beschloß, ihm ihre Karten auch in dem Punkt
aufzudecken.
„Die anderen wissen’s natürlich nicht“,
sagte sie mit besorgter Miene, „und das bedrückt mich am meisten. V/ie soll ich
eine Konditorei eröffnen, wenn ich keinen roten Heller habe?“
„Willst du sagen, daß du gar nichts
hast?“ fragte Sir William, dem eine solche Möglichkeit, zumal bei jemand, der
fast eine Verwandte war, ziemlich phantastisch erschien.
„Nicht einen Penny“, sagte Julia
dankbar, denn es wäre ihr schrecklich gewesen, wenn sie die Frage mit Mr.
Rickabys Geld in der Handtasche hätte beantworten müssen. „Ich hab’ nicht mal
die Rückfahrkarte, und wie ich je nach London zurückkommen soll, weiß ich
nicht.“
„Das ist meine geringste Sorge“, sagte
Sir William.
Er sprach nicht weiter, und Julia hielt
den Atem an, denn wenn er eine günstige Gelegenheit für Fragen suchte, eine
bessere konnte sie für ihn nicht finden. Aber Sir William war noch bei ihrem
sensationellen Geständnis.
„Ich möchte nur wissen, wie du
überhaupt hergekommen bist“, sagte er. „Wenn die Eröffnung mich nicht zum
Mitschuldigen und Hehler stempelt!“
„O nein!“ rief Julia. „Das war ganz
leicht. Ich habe einfach ein paar wertvolle Gegenstände verkauft.“ Und da die
Chance für Ausbrüche irgendwelcher Art nun doch einmal verpaßt war,
verarbeitete sie die Situation mit Mr. Netherton und den beiden
Gerichtsvollziehern zu einer unterhaltsamen Erzählung.
Aber sie führten auch inhaltsreichere
Gespräche. Denn seit Julia Sir William etwas näher kennengelernt hatte, hielt
sie ständig Ausschau nach einem günstigen Moment, um von Susan und Bryan zu
reden. Aber es war erstaunlich schwer, einen solchen Moment zu entdecken. Sir
William hatte offenbar jeglichen Ernst fahren gelassen und war nicht dazu zu
bewegen, irgendwelchen gewichtigeren Problemen näherzutreten. Er war vollauf
damit zufrieden, sich im Garten herumzutreiben und Julias Reminiszenzen mit
anzuhören oder sie im Wagen spazierenzufahren und über ihren Enthusiasmus über
schöne Landschaften zu lachen.
„Aber die Aussicht ist doch schön“,
sagte Julia einmal halb unmutig.
„Sehr schön sogar“, gab Sir William zu.
„Warum lachst du denn dann, wenn ich’s
sage?“ wollte Julia wissen.
„Ich lache nicht über das, was du sagst“,
erklärte Sir William, „ich lache über deinen Gesichtsausdruck, wenn du es
sagst. Du hast einen Schöne-Aussicht-Sonder-Ausdruck; du siehst dann immer so
tugendhaft aus...“
Julia beschloß, den ersten besten
Augenblick als gute Gelegenheit zu erklären, an dem sie mit Sir William allein
war und er nicht gerade laut lachte. Diese Voraussetzungen erfüllten sich eines
schönen heißen Morgens, als sie beide von der Hitze faul geworden waren und
Anthelmine ihren Besuch schon abgestattet hatte. Diesmal hatte sie eine
Handvoll Dragées gebracht, weiß verzuckerte Mandeln, die auf eine Hochzeit im
Dorf schließen ließen — die Gelegenheit war günstig.
„Die sind für Jeanne-Marie“, sagte
Julia. „Claudias Nichte. Sie heiraten nächste Woche.“
Sir William grunzte.
„William!“
„Ja, was ist, Liebe?“
„Ich muß einmal ernsthaft mit dir
reden. Über Susan und Bryan.“
Sir William rekelte sich im Liegestuhl
und sah zum Himmel auf. Julia verstand ihn gut, er war glücklich und zufrieden
und wollte nicht gestört werden. Sie wollte ja auch nicht, und sie hätte für
niemand in der Welt außer für Susan auch nur in Gedanken dieses wunderbare,
schweigende Beisammensein gestört. Aber für Susan mußte es sein.
„Die ganze Sache ist meine Schuld“,
sagte sie hinterlistig.
Wie sie es gewußt hatte — und sie war
glücklich, daß sie es wissen durfte! — wurde Sir William mit einem Schlage
hellwach und zu Protesten bereit.
„Unsinn, meine Liebe! Das wird schon
zur Sucht bei dir, immer die Schuld an allem haben zu wollen! Wie willst du dir
auch diesen Fall zuschanzen?
„Ich hätte von Anfang an fest sein
sollen“, sagte Julia ernsthaft. „Gleich als ich wußte, wie die Sache stand— und
als Susan noch bereit war, auf mich zu hören. Ich hätte ihr klipp und klar
sagen müssen, daß er nichts taugt. Ich hätte ihn dazu bringen sollen, sich zu
verraten, selbst wenn
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