Die Wacholderteufel
errechnete, dass sie schon im vierten Monat sei. Alsohatte sie bisher keinen Anlass gesehen, irgendetwas wesentlich anders zu machen als sonst auch. Es ging ihr doch so weit gut, körperlich zumindest.
Dann kam jedoch dieser Ärger mit Ansgar, als er von dem Kind erfuhr und sofort Alarm schlug, sie solle sich an den Schreibtisch versetzen lassen und nur noch leichte Büroarbeit machen. Sie hatte nicht im Leben daran gedacht, seiner Forderung nachzukommen, und hielt es auch jetzt noch für unzumutbar, sich wie ein Invalide zu benehmen, nur weil sie schwanger war. Sie hatten sich fürchterlich gestritten. Und seit geraumer Zeit herrschte Funkstille.
Ganz schön viel Mist hatte sich auf ihrem Leben angehäuft, da war nicht viel Zeit übrig geblieben, um sich mal um sich selbst zu kümmern. Bis sie zusammengeklappt war.
Wencke Tydmers war kein Typ, der sich leicht aus den Angeln heben ließ, doch vor zwei Wochen war sie von einer Sekunde auf die andere in die Waagerechte gegangen. Dummerweise war dies nicht irgendwo am menschenleeren Deich, in den eigenen vier Wänden oder zumindest in ihrem Büro im Polizeirevier passiert, sondern mitten in der Auricher Fußgängerzone, auf dem Marktplatz, neben einem Stand für Frischgeflügel. Sie hatte eben zehn Eier von glücklichen Hühnern gekauft, davon war ihr eines heruntergefallen, genau auf die Schuhspitze. Sie hatte den Dotter von ihrem Stiefel auf das Straßenpflaster tropfen sehen. Und als sie sich danach bücken wollte, war ihr schwarz vor Augen geworden und sie hatte sich lang gemacht. Wegen eines blöden Hühnereis.
«Frau Pelikan, was hat Sie dazu bewogen, ausgerechnet nach Bad Meinberg zu kommen?», fragte Ilja Vilhelm mit therapeutisch-verständnisvollem Lächeln.
«Die Krankenkasse hat das Heim für mich ausgesucht», antwortete Nina Pelikan brav.
«Waren Sie schon einmal hier?»
Die Antwort kam eher zögerlich. «Nein, noch nie. Ist aber eine schöne Gegend hier. Ein wenig verwunschen, der Wald und so.» Unsicher setzte sich die Frau wieder zu Wencke.
«Und morgen soll es sogar den ersten Schnee geben!», fügte Ilja Vilhelm an und erntete einen Applaus, als hätte er eine Runde Freibier angekündigt.
Er blieb stehen, ließ sich offensichtlich noch gern ein wenig beklatschen, und ging dann auf Wencke zu. Direkt vor ihrem Stuhl blieb er stehen, beugte sich leicht herunter, als rede er mit einem Kind. «Und Sie, Frau Tydmers? Wie sind Sie auf die
Sazellum -Klinik
gekommen?»
Wencke kam nicht umhin, sich den Klinikpsychologen genau anzusehen. Er mochte Mitte vierzig sein, seine blonden Haare waren noch schön dicht und voll, seine Haut glatt und gesund, er hatte sicherlich einen vorbildlichen Lebenswandel. Die hohe, breite Stirn machte ihn rein äußerlich zum Denkertypen. Das kräftige Kinn und die nicht gerade kleine Nase unterstrichen gleichzeitig seine Männlichkeit. Wer immer Ilja Vilhelm als Seelendoktor in dieser reinen Frauenkurklinik eingestellt hatte, hatte einen Volltreffer gelandet. Bei einem solchen Mann waren die Patientinnen sicher gern gewillt, ihr Herz auszuschütten und an sich zu arbeiten. Oder was immer einem bei einem solchen Aufenthalt abverlangt wurde.
«Frau Tydmers? Hat Ihre Versicherung unser Haus für Sie ausgewählt? Ich frage dies nur für unsere Akten. Wir führen Statistik darüber.»
«Nein. Das war ein Kollege.»
«Oh. Ein Kollege?»
«Ja, mein Stellvertreter im … im Büro. Er hat einmal bei Ihnen ein Coaching mitgemacht. Vor sechs Jahren auf Menorca. Als Sie noch freiberuflich tätig waren.»
«Ach», sagte Vilhelm langsam. «Stimmt, das kann sein. Bevor ich in der
Sazellum -Klinik
die psychologische Betreuungübernommen habe, habe ich Motivationskurse gegeben und war als Berater für Wirtschaftsunternehmen und Behörden zuständig. Ein harter Job, das kann ich Ihnen sagen. Und daher kennt er mich noch?» Vilhelm schien erfreut.
«Er kennt Sie nicht nur, er liebt Sie. Wenn Sie wüssten, wie oft er uns Ihre Methoden vorgepredigt hat. Sollten Sie mal einen Stellvertreter suchen, dann wenden Sie sich an ihn. Sein Name ist Axel Sanders.»
Vilhelm zog interessiert die Augenbrauen in die Höhe. «Ich kann mich leider nicht an ihn erinnern. Aber sollte ich mich jemals wieder in die freie Wirtschaft trauen, so werde ich auf Sie zurückkommen.»
Wencke stellte sich Axel Sanders kurz hier an Vilhelms Stelle vor. In einem seiner schnieken, tadellos sitzenden Sakkos. Ja, das würde ihm sicher gefallen. Die volle
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