Die Wacholderteufel
Wencke.
«Unglaublich, zehn Jahre ist er schon. Und ich bin acht Jahre jünger als du. Aber das ist dann wohl nicht dein erstes Kind, oder?»
«Doch», sagte Wencke, und es gelang ihr, diese mütterliche Handbewegung über dem Bauch zu machen.
«Späte Mutter!», stellte Nina Pelikan fest.
Wencke spürte, dass das nicht böse gemeint war. Nina Pelikans Bemerkung war eher eine indirekte Aufforderung, dass Wencke sie auf die eigene sehr frühe Mutterschaft ansprechen sollte. Natürlich hatte Wencke automatisch mitgerechnet und festgestellt, dass Nina noch ein halbes Kind war, als ihr Sohn geboren wurde. Wencke witterte etwas Unangenehmes. Wenn sie dieser fast fremden Frau nun den Gefallen tat und auf das Thema einging, dann könnte das in eines dieser «Werdende-Mütter-Gespräche» ausarten. Und dazu war Wencke beim besten Willen noch nicht bereit. Also war es entschieden besser, die «späte Mutter» unkommentiert zwischen ihnen stehen zu lassen. Sie stand auf. «Ich muss nochmal kurz aufs Zimmer, wir sehen uns dann ja gleich!»
3
Fast alles war doof hier.
Die Erzieherin hatte Mundgeruch. Beim Memory gab es beinah keine Kartenpärchen mehr, und die wenigen, vielleicht noch gut zwölf, waren durch angeknabberte Pappecken sowieso unbrauchbar. Die anderen Kinder hatten alle noch Pampers, außer dieser Joy-Michelle, aber die war ein Mädchen und heulte dauernd. Zum Glück begann ab morgen die Schulgruppe, dann war er wenigstens die Babys und Kleinkinder los.
Das schlimmste: Der P C-Raum war nur Dienstag und Donnerstag von zwei bis vier geöffnet. Und in der Kindergruppe durfte man nicht mit dem Gameboy spielen.
Trotzdem nahm Mattis sich fest vor, sich nichts anmerken zu lassen. Seine Mutter sollte glauben, dass es kein Problem für ihn war, hier zu sein.
Es gab ja auch wirklich ein paar Sachen, die echt besser waren als zu Hause in Bremen. Zum Beispiel, dass er mit Mama in einem Bett schlafen konnte. Er rechts und sie links. Als wenn er jetzt den Mann ersetzte. Er durfte genauso lange aufbleiben wie Mama. Sie hatte ihm versprochen, dass sie hier immer gemeinsam ins Bett gehen würden, beide gleichzeitig. Und das war Klasse.
Zu Hause war es ganz anders. Dort musste er sofort nach dem Abendbrot in sein Zimmer. Er hatte zwar einen eigenen Fernseher im Zimmer und konnte so lange glotzen, wie er wollte, oder am PC sitzen, bis der Bildschirm vor seinen Augen flimmerte, aber er durfte nach halb acht nicht mehr rauskommen. Konnte er auch gar nicht, weil seine Mama immer die Tür abschloss. Wenn er mal pinkeln musste, sollte er ins Töpfchen machen. Dabei war er mit zehn Jahren echt schon viel zu alt für einen Pisspott. Er musste immer tierisch aufpassen, um nichts daneben zu machen, der bescheuerte harte Kunststoffrand kniff auch noch schrecklich am Po. Wenn Freunde zu Besuch kamen, schob er immer als Erstes die blaue Plastikwanne unter das Bett. Mittlerweile hatte er aufgehört, nach fünf Uhr abends noch was zu trinken, damit dieses Problem mit dem peinlichen «Aufs-Töpfchen-Gehen» gar nicht erst auftrat.
Hier in Bad Meinberg gab es keinen Nachttopf und keine verschlossenen Türen. Er freute sich schon auf den Abend. Dann konnte er sich bestimmt bei seiner Mutter in den Arm rollen und endlich mal richtig schlafen. Das war wirklich gut.
Beim Mittagessen hatten sie noch allein am Tisch gesessen. Es hatte Lasagne gegeben, und Mattis hatte sich zweimal Nachschlag vom Buffet genommen. Weil sonst kaum jemand im Speisesaal gewesen war, hatte Mama nichts gesagt. Sonst hätte sie sicher wieder gemault: «Lass für die anderen noch was übrig. Sei nicht so gierig. Schlag dir den Bauch nicht so voll, du wirst Magenschmerzen bekommen.» Seine Mutter warja eigentlich okay. Er sah sie nicht besonders oft, weil sie zu Hause immer arbeiten ging. Aber wenn sie mal da war und nicht zu k. o., den Mund aufzumachen, sagte sie ständig solche Sachen. Immer wenn es für ihn gut lief, nörgelte sie an ihm herum. Manchmal kam es ihm vor, als wolle sie nicht, dass er sich irgendwo wohl fühlte. Das war komisch. Er wusste doch, dass sie ihn lieb hatte. Aber immer verbot sie ihm die schönsten Sachen.
Heute Mittag war es ihr aber anscheinend egal gewesen, dass er gegessen hatte wie ein Scheunendrescher. Vielleicht auch, weil sie sich selbst nur einen Klecks Tomatensalat auf den Teller geladen hatte. So konnte er auch ihre Portion Nudeln verputzen. Und hinterher noch zwei Schälchen Schokopudding. Aber wahrscheinlich war sie wieder so
Weitere Kostenlose Bücher