Die Wacholderteufel
und setzte sich wieder hin. Es gab überhaupt keinen Grund, hier irgendjemandem irgendetwas zu erzählen.
Eine kurze Weile war es still in dem warmen, holzvertäfelten Raum, lediglich das unregelmäßige Schaben eines Astes an der großen Fensterscheibe war zu hören. Der Nadelbaum wankte im Wind. Die Leute hier im Teutoburger Wald sprachen von Sturm. Darüber konnte Wencke nur schmunzeln. Sturm war etwas anderes. Sturm gab es nur zu Hause.
Endlich räusperte sich Ilja Vilhelm, der als leitender Psychologe und selbst ernannter Motivationstrainer die heutige Vorstellungsrunde moderierte. Da er der einzige Mann im Raum war, gut aussehend noch dazu, zog er sofort die Aufmerksamkeit aller Frauen auf sich.
«Gut, danke, Frau Tydmers. Wenn Sie nicht mehr von sich erzählen wollen, ist das vollkommen in Ordnung.» Er zwinkerte ihr vertraulich zu. Wencke erschien es unangemessen, in dieser Runde so auf Tuchfühlung zu gehen, sie schaute weg. Ilja Vilhelm stand auf, ging ein paar Schritte in die Mitte des Stuhlkreises und ließ seinen Blick einmal über die Runde schweifen.
«Ich möchte an dieser Stelle nochmal darauf hinweisen, dass bei uns niemand gezwungen wird, etwas zu sagen. Wir sind hier eine offene Gemeinschaft, wir werden die nächsten drei bis vier Wochen miteinander verbringen, und jede soll so sein, wie sie ist. Jede ist uns willkommen, auch wenn sie lieber nicht so viel erzählen möchte.»
Der letzte Satz schickte all die neugierigen Blicke wieder in Wenckes Richtung zurück. Diese zuckte die Schultern. «Ätschbätsch!», wollte sie sagen. «Ihr werdet nichts über mich erfahren. Nicht, warum ich schwanger, aber ledig bin. Nicht, warum ich in dieses Sanatorium eingewiesen wurde. Und erst recht nicht, ob ich irgendwelche Probleme habe.» Denn sie wusste ja selbst nicht, warum, wieso, weshalb. Obwohl das traurig genug war, lächelte sie tapfer. Und schwieg.
«Hallo!» Unbemerkt war die Schwarzhaarige neben ihr aufgestanden und winkte unsicher in die Runde. Wencke registrierte erleichtert, dass die Aufmerksamkeit von ihr abgelenkt wurde und nun auf ihrer Stuhlnachbarin ruhte. «Nina Pelikan aus Bremen. Ich bin siebenundzwanzig Jahre, ich arbeite im Supermarkt, bin verheiratet, habe einen zehnjährigen Sohn, den Mattis. Er ist mitgekommen, weil mein Mann keine Zeit hat, sich um ihn zu kümmern. Ich bin im sechsten Monat schwanger.» Sie strich sich zärtlich über den Bauch, dem man im Gegensatz zu Wenckes noch nicht so deutlich ansehen konnte, dass sich ein Kind darin ausbreitete.
Wencke wurde bewusst, dass sich bislang all die anwesendenwerdenden Mütter auf irgendeine Weise in Pose gebracht hatten. Entweder hatten sie demonstrativ die Hände ins Kreuz gelegt und die Hüfte nach vorn geschoben, oder sie waren schwerfällig vom Stuhl aufgestanden, mit Leidensbittermiene und angestrengtem Schnaufen, als stünde die Geburt unmittelbar bevor. Die meisten hatten aber zumindest diese feine, liebevolle Geste gemacht, wie eben diese Nina Pelikan zu ihrer linken Seite. Eine schützende Hand auf dem Bauch.
Nur Wencke hatte nichts dergleichen veranstaltet.
«Ich setze viele Wünsche und Hoffnungen in diese Kur», fuhr die Frau fort. Sie war recht hübsch, allerdings erst auf den zweiten Blick. Die dunklen glatten Haare waren gefärbt und ließen sie ein wenig graumausig erscheinen. «Wenn man voll berufstätig ist, dann noch seinen Pflichten als Mutter und Hausfrau nachkommen muss …», sie seufzte tief und erntete verständnisvolles Nicken ringsherum. «Ich denke, ihr wisst alle, wovon ich rede.» Allem Anschein nach traf dies – bis auf Wencke – zu. «Ich möchte Ruhe finden, Ruhe und Kraft. Für mich, für Mattis und natürlich für das kleine Wesen hier in meinem Bauch. Es wird ein Mädchen, sagt der Arzt. Wir wollen sie Helen nennen.»
Einen Namen muss ich mir auch immer noch ausdenken, fiel es Wencke wieder ein. Sie hatte bisher nur einen flüchtigen Gedanken darauf verwenden können. Wann denn auch? An dem Tag, als sie morgens den hellblauen Streifen auf dem Testgerät erblickte, hatte sie mit ihrer Abteilung gerade eine Weiterbildung zum Thema «Sexuelle Gewalt» absolviert, da stand ihr der Kopf ganz woanders. Danach war diese Sache mit dem toten Mädchen aus Dornumersiel passiert: ein widerlicher Fall, der die ganze Abteilung auch jetzt noch in Atem hielt. Zwischendurch war sie mal irgendwann beim Arzt gewesen, der ihr beste Gesundheit attestierte und mit Hilfe einer umständlichen Scheibe
Weitere Kostenlose Bücher