Die Wächter von Jerusalem
weiß es noch nicht genau «, erwiderte Cosimo, fuhr sich zerstreut durchs Haar und stieß dabei versehentlich die Kippa vom Kopf, die Elias ihm für die Dauer des Festes geliehen hatte. Ein kleiner Junge hob sie auf und reichte sie ihm mit einem schüchternen Lächeln. Geistesabwesend nahm er die kleine Kappe wieder an sich. Ein Gedanke jagte den nächsten. Endlich wurde ihm bewusst, dass seine Gastgeber auf eine Erklärung warteten.
»Der Brief ist von meinem Sohn Anselmo«, sagte er. » Meine Cousine ist überraschend aus Florenz eingetroffen. Da wir keine Nachricht von ihrem bevorstehenden Besuch erhalten haben, liegt die Vermutung nahe, dass wichtige Ereignisse in der Heimat sie zu einer überstürzten Reise veranlasst haben.« Er schluckte, dann sah er Elias an. »Vergebt mir, ich bin untröstlich angesichts Eurer Freundlichkeit einem Fremden gegenüber . Jedoch es bleibt mir keine andere Wahl. Ich muss Euch auf der Stelle verlassen.«
Rahel nickte verständnisvoll, und Elias legte Cosimo tröstend einen Arm um die Schultern.
»Freilich müsst Ihr nach Hause«, sagte er, während er Cosimo persönlich zum Tor begleitete. »Ich hoffe und bete für Euch, dass Eure Cousine nicht die Botin von großem Unglück und Schmerz ist.«
»Ja, das hoffe ich auch«, murmelte Cosimo.
»Wir können ermessen, wie Ihr Euch fühlen müsst. Wir rechnen jeden Tag mit schlechten Neuigkeiten und …« Er machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick über das Land wandern. »Wir sind so oft von hier vertrieben worden – erst von den Babyloniern, dann den Römern, den Christen und schließlich den Moslems. Es gab Zeiten, da war uns Juden sogar das Betreten von Jerusalem bei Todesstrafe verboten. Das wir jetzt hier leben dürfen, ist für uns alle ein großes Glück. Doch unsere Geschichte hat uns gelehrt, dass das Glück meist nicht von Dauer ist. Wir wissen nicht, wie lange der Sultan noch beliebt, uns hier zu dulden. Und beinahe jeden Tag rechnen wir mit einer Nachricht, die uns zwingt, dieses Land erneut zu verlassen.« Er seufzte. »Vergebt uns daher unsere Erleichterung , als wir hörten, dass der Brief nicht für uns bestimmt ist.«
Cosimo lächelte. »Ich brauche Euch nicht zu vergeben, Elias, zu gut kann ich Eure Sorge verstehen.« Er umarmte den Ölhändler. »Ich danke Euch von ganzem Herzen für Eure Gastfreundschaft. Ich hoffe, dass mir eines Tages die Gelegenheit geboten wird, diesen Freundschaftsdienst zu erwidern.«
Elias sah noch zu, wie Cosimo das Pferd bestieg, das der Bote für ihn bereithielt, dann schloss er das Tor hinter sich und kehrte zu seiner Familie und dem Festmahl unter dem Ölbaum zurück.
Nachrichten aus Florenz
»Herr! So wartet doch auf mich! Herr! Seid doch vorsichtig, Ihr reitet zu schnell! Herr, das Gelände ist gefährlich! Herr!«
Doch Cosimo reagierte nicht auf die Rufe. Er galoppierte davon, als ob er von tausend Teufeln verfolgt würde. Die verzweifelte Stimme des Boten, der ihm auf seinem mageren, struppigen Pferd zu folgen versuchte, wurde immer leiser, bis schließlich nur noch der Wind in seinen Ohren rauschte. Er hatte keine Zeit, auf den Boten und seinen lahmen Gaul zu warten. Er musste nach Hause, so schnell wie möglich. Er musste in Jerusalem sein, bevor es zu spät war, bevor Anne auf den Gedanken kam, die Stadt wieder zu verlassen. Oder bevor Anselmo eine Dummheit beging.
Cosimo trat dem Pferd so heftig in die Flanken, dass es erschrocken wieherte und dann noch schneller lief. Die schmale Straße war steinig und wurde von zahllosen Dornenbüschen gesäumt. Manchmal streifte das Pferd die Büsche, und Cosimos Beinkleider blieben an den langen, spitzen Dornen hängen und rissen. Doch er achtete nicht darauf. Erst als das Tier strauchelte, sich vor Schmerz aufbäumte und ihn beinahe abgeworfen hätte, kam ihm in den Sinn, dass der Bote mit seiner Warnung möglicherweise Recht gehabt hatte. Vielleicht hatte sich das Pferd verletzt. Doch wenn er langsamer ritt, würde er noch Stunden bis nach Jerusalem brauchen. Wertvolle Zeit verstrich ungenutzt … Cosimos Herz schlug schneller. Jetzt war nicht der Augenblick für Mitleid. Unbarmherzig stemmte er seine Beine in die Flanken des Tieres und schlug ihm die Zügel rechts und links gegen den Hals. Das Pferd kämpfte dagegen an, wehrte sich gegen seinen Reiter, wieherte und bäumte sich auf. Doch Cosimo ließ sich nicht abschütteln, und endlich gab das Tier seinen Widerstand auf und galoppierte weiter. Ohne Erbarmen trieb Cosimo
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