Die Wächter von Jerusalem
hatte es nicht gewagt, sich wieder in den Sattel zu setzen. Erstens fürchtete er an der nächsten Straßenecke auf den Janitscharen zu stoßen, und zweitens hatte der junge Soldat Recht. Das Pferd war zu Tode erschöpft, es hinkte und ließ den Kopf hängen, als würde er es zur Schlachtbank bringen. Cosimo hatte ein schlechtes Gewissen . Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er ein Lebewesen derart schlecht behandelt.
Er nahm den Türklopfer und pochte lautstark gegen die Tür. Mahmud öffnete auf der Stelle.
»Seid gegrüßt, Herr, wir haben Euch schon erwartet. Ihr …« Dann fiel sein Blick auf das Pferd, und er verstummte, doch in seinem Gesicht war deutlich der Unmut und die Anklage zu lesen. Alle muslimischen Männer, denen Cosimo bisher in Jerusalem begegnet war, schienen ein ganz besonderes Verhältnis zu Pferden zu haben. Dennoch plagten ihn jetzt andere Sorgen als der Groll seines Dieners.
»Ist meine Cousine, die Signorina Anne, noch anwesend?«
»Ja, Herr, sie und Euer Sohn Anselmo erwarten Euch im Speisezimmer.«
Cosimo atmete erleichtert auf. Er war also nicht zu spät gekommen .
»Hier, bring es in den Stall«, sagte er und drückte Mahmud die Zügel in die Hand. »Reib es gut trocken, und gib ihm eine Extraportion Getreide zu fressen. Und außerdem solltest du den linken Vorderhuf untersuchen. Wahrscheinlich hat es sich einen Dorn in den Huf getreten.« Er tätschelte dem müden Tier den Hals. »Verzeih mir, treuer Freund«, sagte er leise. »Ich stehe tief in deiner Schuld.«
Dann machte er sich auf den Weg ins Speisezimmer.
Anne sah sich aufmerksam im Speisezimmer um. Ihre Finger glitten über das dunkle, glänzend polierte Holz einer Anrichte und über die mit kunstvollen Schnitzereien verzierten hohen Lehnen der Stühle. Es war das Speisezimmer eines wohlhabenden florentinischen Kaufmannes. Man hätte meinen können, sie wäre in Wirklichkeit in Florenz gelandet anstelle von Jerusalem . Nur das Messinggeschirr auf dem Tisch, die schlanke hohe Kanne mit dem dünnen Ausgießer und die farbenfroh bemalten Schalen und Krüge passten nicht in dieses Bild. Sie waren eindeutig orientalischen Ursprungs.
»Natürlich gibt es hier im Haus auch ein Speisezimmer nach orientalischem Vorbild – mit Sitzkissen, niedrigen Tischen und Teppichen auf dem Boden«, erklärte Anselmo, als Anne ihn darauf ansprach. Er bat sie mit einer Geste an den Tisch und schob ihr den Stuhl zurecht. »Doch wir speisen dort nur, wenn wir Gäste hier aus der Stadt erwarten. Wenn wir allein sind, essen wir stets in diesem Zimmer. Wir empfinden es als angenehmer, bei der Mahlzeit aufrecht auf einem Stuhl zu sitzen statt auf einem Kissen auf dem Boden zu hocken. Außerdem erinnert es an die Heimat.«
Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Du bist nicht gern hier in Jerusalem?«, fragte Anne.
»Wenn ich ehrlich sein soll … nein. Ich hasse diese Stadt. Wenn es nach mir ginge, würden wir noch heute nach Hause zurückkehren. Aber …« Er zuckte mit den Schultern. »Bitte sagt Cosimo nichts davon.«
»Natürlich nicht«, versicherte Anne. »Warum seid ihr eigentlich wirklich hier? Du hast mir vorhin zwar erzählt, dass ihr Florenz wegen des Geredes über euch verlassen musstet, doch wenn ich nicht irre, ist das nur ein Teil der Wahrheit. Ihr hättet nämlich auch in jeder anderen Stadt Unterschlupf finden können, zum Beispiel in Rom, Venedig oder Mailand. Oder was ist mit Wien, Köln oder Paris, wenn ihr schon nicht in Italien bleiben wolltet. Warum ausgerechnet Jerusalem? Der Weg ist weit, das Land ist gefährlich.«
Anselmo räusperte sich verlegen und drehte seinen Becher hin und her.
»Ich weiß nicht, ob ich Euch …«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein mit einem orientalisch anmutenden Mantel bekleideter Mann trat ein. Er war sehr schlank und hatte ein schmales, ausdrucksstarkes Gesicht, ein Gesicht, das Anne wohl bis an ihr Lebensende nicht mehr vergessen würde. Cosimo de Medici.
»Vater!«, rief Anselmo sichtlich erleichtert, sprang vom Stuhl auf und lief ihm entgegen. »Ihr kommt gerade recht, wir wollten mit dem Mahl beginnen. Aber …« Er blieb stehen und betrachtete Cosimo mit gerunzelter Stirn. Sein Mantel war staubig und an den Säumen zerfetzt, ebenso die weit geschnittene Hose. »Wie schaut Ihr aus? Hat Euer Pferd Euch durch die Dornen geschleift?«
»Das kommt der Wahrheit in der Tat ziemlich nahe«, sagte Cosimo, ergriff flüchtig Anselmos Hand und eilte dann zu
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