Die Wächter von Jerusalem
Herzschlag.
»Wartet hier«, sagte der Diener und verneigte sich in einer Mischung aus anerzogener Höflichkeit und Angst. »Ich werde meinem Herrn Bescheid sagen.«
Es dauerte eine Weile, bis der Diener zurückkehrte. Und als sich die Tür wieder öffnete, trat weder der Kaufmann noch sein Sohn ein, sondern sie . Er hatte zwar im Stillen gehofft, dass er sie wiedersehen würde, doch jetzt, da sie vor ihm stand, noch dazu ohne männliche Begleitung, brachte es ihn aus der Fassung. Aber nur für einen Augenblick. Dann begann er sein Glück zu begreifen. Er konnte mit ihr sprechen, endlich ihre Stimme hören. Niemand würde sie stören. Wärme durchflutete jedes Glied seines Körpers, und er wusste es, genau wie vor einigen Stunden – sie war es.
Sie sagte etwas zu dem Diener in einer Sprache, die Rashid nicht verstand, die aber überaus melodisch klang. Ihre Stimme war weich wie feinste Seide. Der Diener nickte, schloss die Tür hinter sich und schlurfte davon. Sie waren allein.
Wie am Mittag konnte Rashid auch jetzt seinen Blick nicht von ihr abwenden – von ihren schönen warmen Augen, dem zarten Gesicht, umrahmt von dunklem Haar, dem leichten Lächeln , das wie glitzernde Tautropfen an ihren Mundwinkeln zu hängen schien. Allerdings nahm er diesmal auch noch andere Details ihrer Erscheinung wahr. Sie trug ihre Haare offen, ihr Kopf war unbedeckt, und unter dem Gewand erkannte er deutlich ihre schlanke Gestalt.
Rashid schloss die Augen. Er versuchte sich etwas in Erinnerung zu rufen – er war Janitschar. Es gab Dinge, an die er nicht denken durfte, die ihm nicht erlaubt waren. Er hatte einen Eid geschworen, er durfte nicht … Egal.
Er öffnete die Augen und lächelte, als er erkannte, dass sich seine Gefühle in ihren Augen und auf ihrem Gesicht widerspiegelten . Allah sei gepriesen! Sie empfand ebenso wie er.
Sie sagte etwas, und er schüttelte lächelnd den Kopf. Verlegen sahen sie einander an, stumm, weil sie nicht dieselbe Sprache sprachen. Und doch sagten ihre Augen mehr, als tausend Worte je vermocht hätten. Ja, sie gehörten zueinander.
Als sich die Tür öffnete, zuckten sie beide wie von einem Peitschenhieb getroffen zusammen. Der Kaufmann und sein Sohn traten ein. Die Frau sagte wieder etwas in dieser wohlklingenden Sprache, die Rashid nicht verstand. Er hätte ihr ewig zuhören mögen. Und das nicht allein wegen der Sprache.
»Was führt Euch zu uns?«, fragte der Kaufmann auf Hebräisch . Er war höflich, und dennoch entging Rashid die Anspannung in seinem Gesicht nicht. Hatte er wohl doch etwas zu verbergen? Oder war er einfach nur nervös, weil ihn zum zweiten Mal an diesem Tag ein Janitschar aufsuchte?
»Ich habe noch eine Frage, die ich vorhin nicht geklärt habe«, antwortete Rashid. Obwohl er ihr jetzt den Rücken zuwandte, spürte er die Blicke der Frau wie wärmende Sonnenstrahlen auf sich ruhen und musste sich zusammenreißen, um nicht zu lächeln. Der Kaufmann und sein Sohn hätten ihn wohl kaum verstanden. »Vorhin wart Ihr gerade beim Essen. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Würsten. Woher habt Ihr diese Würste?«
Der Sohn des Kaufmannes, ein gut aussehender junger Mann mit funkelnden braunen Augen, hob spöttisch seine Brauen.
»Habt Ihr Hunger? Bekommt Ihr in Eurer Kaserne nicht genug zu essen? Wenn Ihr wollt, können wir Euch gerne …«
Doch ein strenger Blick seines Vaters ließ ihn verstummen.
»Verzeiht. Anselmo, mein Sohn, ist zuweilen ein wenig hitzig . Doch ich nehme an, dass Euch dieser Wesenszug nicht fremd ist, und hoffe daher auf Euer Verständnis.«
Rashid lächelte. Natürlich, der Kaufmann spielte auf ihre Begegnung am Stadttor vor einiger Zeit an. Schon vorhin hatte er erkannt, dass er jener Kaufmann war, der sein Pferd beinahe zu Tode geritten hatte.
»Ich kann ihn sehr gut verstehen«, erwiderte er und spürte genau, dass er in diesem Moment, mit ihrem Blick in seinem Nacken, auf nichts und niemanden wütend sein konnte. Viel eher hätte er singen mögen oder tanzen. »Ich verzeihe ihm. Und er irrt sich, denn weder Hunger noch Appetit ließen mich nach diesen Würsten fragen. Vielleicht habt Ihr bereits davon gehört, dass sich seit einiger Zeit ein bisher unbekannter christlicher Prediger in der Stadt aufhält. Die Tatsache an sich würde uns keinesfalls beunruhigen, letztlich ist er nur einer unter vielen. Allerdings gibt der Inhalt seiner Predigten Anlass zur Sorge. Unseren Informationen nach hat er nichts Geringeres vor, als einen weiteren
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