Die Wächter von Jerusalem
Kreuzzug zu beginnen. Und er schart nahezu täglich mehr Anhänger um sich.« Man sagte ihm nach, er würde oft handeln, ohne zuvor darüber nachgedacht zu haben. Manche seiner Kameraden behaupteten sogar zuweilen, er sei verrückt. Bisher hatte er immer gedacht, dass sie alle lediglich zu schwerfällig, zu langsam waren, um seinen Gedanken und Taten folgen zu können. Doch jetzt, hier im Hause des Kaufmannes von Florenz, war er sich nicht mehr so sicher. Hatten seine Kameraden etwa Recht? Sie mussten wohl Recht haben, denn eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Er musste den Verstand verloren haben, wenn allein der Blick einer unbekannten Frau ausreichte, seine Zunge einem Fremden gegenüber zu lösen und Geheimnisse auszuplaudern, über die sie eigentlich Stillschweigen bewahren sollten. Was würde wohl erst eine Berührung von ihr anrichten? Doch nichts Geringeres wünschte er sich in diesem Moment. Und er wünschte es sich mehr als alles andere auf dieser Welt. »Wir kennen von ihm nur einen Namen – er nennt sich Pater Giacomo. Und jetzt suchen wir die ganze Stadt nach ihm ab.«
»Aber – ich bitte vielmals um Vergebung – was hat das mit unseren Würsten zu tun?«
Der Kaufmann machte einen verwirrten Eindruck – zu Recht.
»Dazu muss ich weiter ausholen«, sagte Rashid und spürte an der Hitze seiner Wangen, dass er rot wurde. »Vor einigen Nächten habe ich auf einem Patrouillengang mit meinen Kameraden einen Schatten gesehen, eine plumpe, behäbige Gestalt , die nicht recht zu einem Dieb passte, sich aber dennoch ganz offensichtlich vor uns verbergen wollte.« Warum erzählte er das alles? Er sprach mit diesem Kaufmann wie mit einem Freund, anstatt ihn zu verhören. Wenn Ibrahim, der Meister der Suppenschüssel, davon jemals erfahren würde, wäre er derjenige, der für einige Tage ein Quartier im Kerker beziehen würde. »Da meine Kameraden nichts bemerkt hatten, dachte ich anfangs, ich hätte mich getäuscht oder eine Katze über die Straße huschen sehen. Diesem Schatten jedoch haftete der Geruch Eurer Würste an. Und nun werdet Ihr verstehen , weshalb ich mich nach ihrer Herkunft erkundige.«
Die Frau sagte etwas in ihrer melodischen Sprache.
»Sie spricht weder Arabisch noch Hebräisch?«, fragte Rashid den Kaufmann.
»Signorina Anne?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Sie möchte aber gern wissen, was Ihr uns erzählt habt. Wenn Ihr erlaubt, werde ich es ihr übersetzen.«
Signorina Anne … Nie zuvor hatte ein Name schöner in seinen Ohren geklungen. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Dann nickte er.
Der Kaufmann berichtete hastig. Die Augen der Frau weiteten sich, und sie wurde bleich.
»Mein Gott«, sagte sie leise, »dann ist es also wahr. Er ist wirklich hier.«
Die Worte trafen Rashid wie ein Blitz aus heiterem Himmel, und er begann zu frieren. Was war das? Was hatte Allah nur mit ihm vor? Signorina Anne hatte jetzt nicht die Sprache des Kaufmannes benutzt. Es war eine andere, härter klingende Sprache. Er hatte sie nie zuvor gehört – außer in seinem seltsamen Traum. Und doch war sie ihm auf rätselhafte Art so vertraut , dass er jedes Wort verstanden hatte. Das war doch nicht möglich.
»Was …« Er räusperte sich und begann erneut. »Welche Sprache war das?«
»Deutsch«, antwortete der Kaufmann bereitwillig. »Meine Cousine lebt eigentlich nicht bei uns in Florenz, sondern weiter nördlich, jenseits eines Flusses, der den Namen Rhein trägt. Sie kam mit wichtigen Nachrichten zu uns und … Aber davon wisst Ihr ja bereits.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Rashid langsam und ließ Anne nicht aus den Augen. Welches geheimnisvolle Schicksal verband sie beide miteinander? »Bittet sie, noch mehr Worte in dieser Sprache zu sagen.«
Der Sohn des Kaufmannes runzelte die Stirn. Seinem Blick nach zu urteilen glaubte er, dass Rashid übergeschnappt sei. Sollte er. Rashid war sich da ja nicht einmal selbst sicher. Was der Kaufmann über ihn dachte, blieb ihm verborgen. Aber er schien seine Bitte zu übersetzen, denn nun sah auch Anne ihn fragend an. Bis in die verborgensten Winkel seiner Seele schien ihr Blick zu reichen, und er hatte den Eindruck, dass sie die Antwort auf viele seiner Fragen zumindest ahnte. Er hätte seinen Jahressold für ihre Gedanken gegeben. Dann lächelte sie.
»Mein Name ist Anne«, sagte sie langsam und ging einen Schritt auf ihn zu. »Und wie ist dein Name?«
»Rashid.« Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Er verstand diese Sprache
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