Die Wächter von Jerusalem
bemerkt? Er warf dem Freund einen raschen Seitenblick zu. Nein, bestimmt nicht. Andernfalls hätte er die Durchsuchung des Hauses fortgesetzt und alle Bewohner auf der Stelle verhört. Aber er, was sollte er jetzt tun? Der Verdacht lag nahe, dass jemand aus dem Haus in jener Nacht durch die Straßen geschlichen war. Es musste ja nicht sie gewesen sein. Sie war möglicherweise völlig unschuldig . Wahrscheinlich war sie unschuldig. Ja, sie wusste von nichts. Ganz bestimmt. Diese Augen konnten nicht lügen.
»Wir haben heute bis zum Abend frei, mein Freund«, sagte Yussuf, als sie das Gebäude erreichten, in dem sich die Unterkünfte der Janitscharen befanden. »Wollen wir eine Partie Schach spielen? Oder ins Bad gehen?«
»Vielleicht«, erwiderte Rashid. »Ich weiß noch nicht …«
Er hielt mitten im Satz inne und blieb wie angewurzelt stehen. Eine Erkenntnis hatte ihn getroffen. Hart und unerbittlich . Völlig unerwartet schmetterte sie ihm ihre riesige Faust ins Gesicht. Sein Herz blieb stehen. Er konnte nicht mehr atmen , und nur mit äußerster Willensanstrengung gelang es ihm, sein Gleichgewicht zu bewahren. Er sah ihre Augen vor sich, diese wunderbaren Augen in diesem schönen Gesicht. Es war ihm vorgekommen, als würde in ihr der verlorene Teil seiner Seele leben. Und dann sah er seine Unterkunft vor sich, sein Bett, seinen Platz am Tisch seiner Kameraden. Für einen kurzen Augenblick der Glückseligkeit hatte er es vergessen, und das machte die Erkenntnis nur noch bitterer und schmerzhafter . Er war ein Janitschar. Und im Leben eines Janitscharen gab es keinen Platz für die Liebe zu einer Frau.
Der Kaufmann von Florenz
Der Speisesaal der Janitscharen war voll. Neben Rashid und ihm gegenüber auf den schmalen Bänken drängten sich seine Kameraden – Yussuf, die Zwillingsbrüder Hassan und Jamal, Ali, Kemal und Malik. Sie unterhielten sich, sprachen über eine Wette und lachten über Malik, der einige ihrer Vorgesetzten vortrefflich nachzuahmen verstand. Dabei schaufelten sie das Essen in sich hinein, als lägen sie miteinander im Wettstreit , wer von ihnen am meisten Weizengrütze verspeisen konnte.
Rashid nahm an den Gesprächen teil. Er lachte über die Scherze, schimpfte gemeinsam mit seinen Kameraden über ihren Hauptmann und schob sich immer wieder den Löffel in den Mund, obgleich es ihn große Überwindung kostete. Die Weizengrütze schmeckte ihm heute kaum besser als mit Wasser vermischter Wüstensand, und das Fleisch lag in seinem Magen wie Klumpen geschmolzenen Bleis. Aber er durfte sich nichts anmerken lassen. Wenn nur einer von ihnen Verdacht schöpfte, wenn einer von ihnen fragte, was mit ihm los sei … Ja, vielleicht würde Yussuf sich dann erinnern, dass er sich für die Schüssel mit den Würsten interessiert hatte. Und dann würde es vielleicht Hassan oder Jamal einfallen, dass sie diesen Geruch vor einigen Nächten in diesem schmalen Durchgang wahrgenommen hatten. Und dann würden sie eins und eins zusammenzählen und erneut das Haus des florentinischen Kaufmannes durchsuchen, ihr Haus. Rashid lachte über einen weiteren Scherz und schluckte den widerlichen Kloß hinunter, zu dem sich die Weizengrütze in seinem Mund verklebt hatte.
Ihm war klar, dass er seinen Mund nicht halten durfte, dass er mit jemandem – vielleicht sogar mit einem seiner Vorgesetzten – über seinen Verdacht reden musste. Er war Janitschar, er hatte Suleiman dem Prächtigen die Treue geschworen. Es war seine Pflicht, jedem Hinweis nachzugehen, der sie auf die Spur dieses geheimnisvollen Predigers mit dem seltsamen Namen Giacomo führen konnte. Zuerst musste man natürlich zu dem Metzger gehen und ihn fragen, ob er die Würste hergestellt hatte, die er in jener Nacht auf der Straße gerochen hatte. Vielleicht kauften auch die Christen bei ihm ein, und alles war nichts weiter als eine Aneinanderreihung von Zufällen. Aber wenn nicht? Da kam ihm ein Gedanke. Konnte er die Nachforschungen nicht allein durchführen? Auf diese Weise konnte er ihr jede Menge Unannehmlichkeiten ersparen und gleichzeitig seine Pflicht tun. Doch wenn sich sein Verdacht erhärtete, was dann? Dann würde er natürlich dem Meister der Suppenschüssel alles melden müssen. Oder auch nicht.
»Na, was ist, Rashid?«, fragte Yussuf in diesem Augenblick und rieb sich seinen Bauch. »Kommst du auch mit ins Bad?«
»Ja«, antwortete Rashid mit einem Lächeln, das ihm selbst falsch vorkam. Doch die anderen schienen es nicht zu bemerken . Dann
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