Die Wächter von Jerusalem
sein?«, fragte Cosimo belustigt . »Wenn Anne meine Verlobte wäre, so würde ich gewiss etwas ungehalten reagieren, schon allein aus verletztem Stolz. Aber so …« Er zuckte mit den Schultern. »Anne ist meine Cousine und zudem eine freie, ungebundene Frau. Ich habe kein Recht, ihr Befehle zu erteilen. Und der Art, wie sie Euch ansieht, entnehme ich, dass Ihr sie zu nichts zwingen musstet. Wenn sie also den Mann ihrer Wahl gefunden hat – wunderbar! Es freut mich für sie. Allerdings bin ich ein Freund der Offenheit, wenn sie auch in den Augen mancher schonungslos erscheinen mag.«
Rashid schüttelte den Kopf. Er schien diese Wendung ihres Gesprächs immer noch nicht fassen zu können.
»Aber warum …?«
Cosimo beugte sich vor. »Ich wollte einfach wissen, ob Ihr ehrlich seid. Und ob Ihr den Mut besitzt, mir die Wahrheit zu sagen.« Er hob sein Teeglas. »Wäre ich zu Hause in meiner Heimat, würde ich jetzt wohl den besten Wein kredenzen, den unser Weingut zu bieten hat. Doch ich weiß natürlich, dass Euer Glaube Euch den Genuss von berauschenden Getränken verbietet. So müssen wir uns denn mit Minztee begnügen. Seid willkommen in unserem Kreis, Rashid.«
Auf Rashids Gesicht wechselten Zorn und Freude in rascher Folge einander ab. Dann glitt sein Blick wieder zu Anne.
»Scheut Euch nicht«, sagte Cosimo zu Rashid und deutete zu Anne, der die Tränen jetzt ungehindert über das Gesicht liefen . »Wir beide, Anselmo und ich, sind weder schüchtern noch prüde. Außerdem sind wir alle erwachsen. Geht zu ihr und tröstet sie. Uns würde es ohnehin nicht gelingen, diese Tränen zu trocknen.«
Rashid warf ihm einen fragenden Blick zu, als wollte er sich noch einmal vergewissern, dass er Cosimo wirklich richtig verstanden hatte. Dann war er so schnell bei Anne, als hätte er schon die ganze Zeit nur auf die Erlaubnis gewartet. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie. Ihre Lippen trafen sich, ihre Münder sprangen auf wie reife Granatäpfel, ihre Zungen fanden zueinander.
Schmerzhafte Erinnerungen regten sich, und Cosimo musste den Blick abwenden. Ja, Rashid liebte Anne wirklich. So wie auch er einst Giovanna geliebt hatte. Giovanna de Pazzi.
Das war nun mittlerweile lange Zeit her, fast ein Menschenleben . Trotzdem glaubte er manchmal immer noch ihre Stimme oder ihr Lachen zu hören, wenn er durch das Haus ging, oder sie hinter einem der Rosenbüsche im Garten zu sehen . Er sah sie so, wie sie gewesen war, bevor die Eifersucht ihres wahnsinnigen Bruders sie zerstört hatte. Er seufzte. Es hatte keinen Sinn, den trüben Gedanken nachzuhängen. Die Vergangenheit war vorbei, unwiderruflich.
Unwiderruflich?, flüsterte ihm plötzlich eine Stimme zu. Sie war leise, aber sie klang so süß und lockend, dass er sie nicht überhören konnte. Es war nicht seine eigene Stimme. Doch Cosimo kannte sie, obwohl er sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Manchmal glaubte er, es sei die Stimme der Hexe Arianna, die ihm und Giacomo die Schrift mit dem Rezept des Elixiers verkauft hatte.
Nein, du irrst dich, Cosimo!, fuhr die Stimme fort. Du hast die Macht und die Mittel, sie zurückzuholen. Die Vergangenheit, Giovanna, alles, was du nur willst. Zu jeder Zeit. Es liegt in deiner Hand.
Nein, das kann ich nicht tun.
Aber warum denn nicht, Cosimo? Nur ein paar Tropfen von dem Elixier der Ewigkeit, und du wärst wieder bei ihr. Bei Giovanna!
Nein, das Risiko ist zu groß.
Risiko? Die Stimme schien ihn auszulachen. Seit wann ist das Leben ohne Risiko?
Ich will …
Kannst du dich noch an den Duft ihres Haares erinnern, Cosimo? Giovanna hat es immer mit Rosenwasser gewaschen. Ein paar Tropfen des Elixiers, und deine Hände brauchen sich nicht mehr nur danach zu sehnen, sie können dieses Haar wieder berühren und …
»Nie und nimmer!« Cosimo schlug mit der Faust zornig auf den niedrigen Tisch, wobei er den Rand der Schale mit den getrockneten Früchten traf und es Rosinen, Aprikosen und Feigen auf ihre Köpfe regnete.
Rashid und Anne fuhren erschrocken zusammen und starrten ihn an, als würden sie fürchten, er hätte nun endgültig den Verstand verloren. Anselmo hingegen schien zu wissen , was gerade in seinem Kopf vorgegangen war. Seine Augen waren schwarz vor Sorge, und kaum merklich schüttelte er den Kopf.
Cosimo räusperte sich. Seine Wangen brannten. Immer noch hörte er die Stimme in seinem Kopf. Und was sie ihm sagte, war so einfach, so verführerisch, so logisch – und gleichzeitig so
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