Die Wächter von Jerusalem
»Ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt. Er könnte alles behaupten.«
»Er hat dich angelogen«, sagte Ibrahim und erhob sich von seinem Sitzpolster. »Omar hat es mir gerade eben berichtet. Er hat die Stallknechte befragt. Keiner von ihnen hat Rashid gestern im Stall gesehen. Jetzt frage ich mich, weshalb er wohl gelogen hat.« Ibrahim schnalzte mit der Zunge. »Du sollst wissen, dass wir bereits seit einiger Zeit Verdacht gegen Rashid hegen. Allerdings muss ich zugeben, dass wir bisher lediglich annahmen, er würde es mit seinen Gelübden nicht allzu genau nehmen und sich mit Frauen einlassen. So etwas kommt immer wieder vor, das lässt sich wohl nicht ausmerzen. Aber Verrat«, er wiegte den Kopf hin und her, »ist eine sehr viel ernstere Angelegenheit. Wir werden ihn sogleich ergreifen und verhören. Wenn er wirklich schuldig ist, und daran scheint ja wohl kein Zweifel zu bestehen, werden wir ihn mit aller Härte bestrafen müssen.«
»Jawohl, Meister der Suppenschüssel«, sagte Yussuf und schluckte. Natürlich wusste er, was das bedeutete. Rashid würde durch die Hand des Henkers sterben. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen. War es richtig gewesen, zum Kochmeister zu gehen, anstatt zuerst Rashid zur Rede zu stellen?
Und was hat Rashid getan?, erinnerte ihn eine Stimme in seinem Inneren. Hat er etwa zuerst mit dir geredet, bevor er zum Statthalter gegangen ist? Dennoch war Rashid sein Freund. Sie waren Seite an Seite aufgewachsen, und …
»Ich weiß, wie du dich jetzt fühlen musst, Yussuf«, sagte Ibrahim und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Rashid war dein Freund – wenigstens dachtest du das. Aber glaube mir, du hast das einzig Richtige getan. Dir ist Allahs Vergebung gewiss. Rashid ist derjenige, der ohne Skrupel seine Freunde, seine Kameraden, den Sultan und Allah verraten hat.«
»Jawohl, Meister der Suppenschüssel«, murmelte Yussuf und senkte den Kopf. Auch wenn ihm diese Worte wohl Trost spenden sollten, konnten sie sein Gewissen nicht besänftigen. Es zwickte seine Eingeweide mit glühenden Zangen. Wenn er sich nun doch irrte? Warum nur hatte er nicht erst mit Rashid gesprochen? »Muss ich mitkommen, wenn Ihr …«
»Nein, Yussuf. Du musst nicht dabei sein, wenn wir Rashid verhaften. Wir werden gleich einen Trupp zum Palast des Statthalters schicken. Sollte er nicht dort sein, werden wir die Stadt nach ihm durchkämmen, bis wir ihn haben. Natürlich wirst du vor Gericht noch einmal gegen ihn aussagen müssen. Aber das ist auch das Einzige, was wir von dir in dieser Angelegenheit verlangen werden.«
Yussuf nickte.
»Und nun geh wieder an deinen Posten. Sei gewiss, dass du für deine Mithilfe bei der Ergreifung dieses gemeinen Verräters belohnt werden wirst.«
Yussuf salutierte, drehte sich um und ging zur Tür.
»Was sagst du dazu, mein Freund«, hörte er Ibrahims Stimme , bevor er die Tür hinter sich schloss. Der Meister der Suppenschüssel sprach zwar leise, doch Yussuf hatte ein außerordentlich gutes Gehör. »Ein wahrer Glücksfall für uns. Allah ist groß.«
Rashid wanderte im Schreibzimmer unruhig auf und ab. Das Geräusch des träge über das Papier kratzenden Kalams des Schreibers machte ihn fast verrückt. Es kam ihm vor, als würde er bereits Stunden auf den Statthalter warten. Erst hatte man ihn damit abgespeist, dass der Statthalter noch ruhe und auf gar keinen Fall gestört werden dürfe. Als er das nächste Mal nachgefragt hatte, war Özdemir gerade beim Gebet und dürfe auf gar keinen Fall gestört werden. Danach war er im Begriff zu frühstücken und dürfe auf gar keinen Fall gestört werden. Rashid war bereits neugierig, welche Vorwände dem Schreiber noch einfallen würden. Er hätte bestimmt darüber gelacht, wenn nicht mit jeder neuen Ausrede wertvolle Zeit sinnlos verstrichen wäre.
Zeit. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Er hatte bereits versucht den Wachen am Tor klar zu machen, wie wichtig sein Anliegen war, doch sie hatten ihn nur bis in den Innenhof vorgelassen . Stundenlang hatte er dann auf ihre Kameraden eingeredet , bis sie endlich geruhten, ihm die Tür zu öffnen und ihm zu gestatten, die Eingangshalle zu betreten, wo wieder neue Wachen überzeugt werden mussten. Jetzt war er immerhin bis zum Schreibzimmer vorgedrungen. Nur noch eine einzige Tür trennte ihn von Özdemir, dem Statthalter. Doch davor saß Saadi, Özdemirs Schwiegersohn. Obwohl er keine Waffe trug außer sein Schreibwerkzeug, erwies er sich als das unüberwindlichste
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