Die Wächter von Jerusalem
sag ihm, dass ich nachher mit ihm sprechen werde.«
Yussuf nickte. Er wirkte seltsam bleich, seine Lippen waren kaum mehr als ein schmaler Strich. Doch Rashid hatte jetzt keine Zeit, sich mit Yussufs Sorgen zu beschäftigen. Das musste warten, ebenso wie alles andere. Erst musste er mit Özdemir sprechen. Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er aus dem Schlafsaal, überquerte den Hof und verließ das Kasernengelände. Die Wachen am Tor waren müde von der Nacht und ihrer Wache überdrüssig, sodass sie ihm weder Fragen stellten noch ihn aufzuhalten versuchten.
Die Stadt erwachte langsam und schwerfällig wie ein Riese. Die Straßen waren noch leer, nur hin und wieder kreuzte eine streunende Katze seinen Weg. Fensterläden öffneten sich, und aus dem Inneren der Häuser drangen die Stimmen der Bewohner und die Geräusche des Alltags – das Klappern von Schüsseln, das Geräusch des Schürhakens, mit dem die Glut im Herd neu angefacht wurde, das Weinen eines Babys, Gebete auf Arabisch und Hebräisch. Rashid nahm jedes dieser Geräusche wahr, als hätte er sie nie zuvor gehört. Diese Menschen ahnten nichts von dem Sturm, der sich über ihren Köpfen zusammenbraute. Auf der einen Seite stand dieser Prediger, der jeden, der kein Christ war, aus Jerusalem vertreiben wollte. Auf der anderen Seite standen die Janitscharen , die versuchen wollten die Macht in der Stadt an sich zu reißen. Vielleicht planten die Juden einen ähnlichen Streich. Doch welche der drei Parteien auch siegen würde, es würde ohne Zweifel das Ende von Jerusalem bedeuten. Das war ihm in der Nacht klar geworden. Die drei Millets gehörten zu Jerusalem wie der Tempelberg, die Grabeskirche und die Klagemauer. Allah selbst hatte sich diese Stadt als ein Heiligtum erwählt. Und Er wollte gewiss jedes Seiner Kinder bei sich haben.
Die Stimme des Muezzins erklang vom Tempelberg und rief die Gläubigen zum Gebet auf. Auch Ibrahim und Omar würden ihre Gebetsteppiche in diesem Augenblick ausrollen. Und danach … Rashid beschleunigte seine Schritte. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit.
Yussuf schaffte es gerade eben, fertig angekleidet zu sein, als die Stimme des Muezzins zum Gebet mahnte. Die meisten seiner Kameraden waren bereits im Innenhof, wo sie sich gemeinsam in Richtung der heiligen Stadt Mekka verneigten. Er hingegen musste seinen Gebetsteppich dort ausrollen, wo er war – im Schlafsaal, vor seinem Bett. Wenigstens war er allein.
Während seine Stirn den Boden berührte, er sich wieder aufrichtete und seine Lippen mechanisch die Gebete sprachen, dachte er nach. Seit Rashid weggegangen war, dachte er nach. Weshalb hatte Rashid es so eilig gehabt, dass er noch vor dem Gebet und vor dem Frühstück den Schlafsaal verlassen hatte? Wohin war er gegangen? Mit wem wollte er reden? Worüber? Und warum hatte Rashid sich nicht zuvor ihm anvertraut, so wie er es früher immer getan hatte? Sie waren Freunde, seit er denken konnte. Es gab wenig, was sie nicht miteinander besprachen . Und doch war Rashid in letzter Zeit seltsam verschlossen gewesen, wie abwesend, als wollte er weder mit Yussuf noch mit einem der anderen Kameraden etwas zu tun haben . Er hatte auch nicht mehr an ihren gemeinsamen Vergnügungen teilgenommen. Selbst die Schachpartien, die Rashid sonst so liebte, waren selten geworden. Aber warum? Hatte Rashid ein Geheimnis?
Diese Fragen drehten sich in Yussufs Kopf schwer und langsam wie Mühlsteine. Doch als das Gebet schließlich beendet war, hatte er die Antworten gefunden. Seit dieser unglückseligen Geschichte mit den beiden Mädchen war Rashid nicht mehr der Alte. Andere Kameraden hatten wahrscheinlich nichts bemerkt, weil er sich zusammenriss und scheinbar wie sonst auch mit ihnen lachte, scherzte und schimpfte. Doch Yussuf kannte ihn besser. Ihn konnte Rashid nicht täuschen. Er sah es in seinen Augen. Und dann dieser Wutanfall gestern, als er ihn zufällig berührt hatte. Vielleicht war in diesem Moment Rashids Entschluss gereift, ungeachtet seines Versprechens jemandem von dieser Sache zu erzählen.
Yussuf wurde schwindlig bei dem Gedanken, welche Strafe ihn erwarten würde. Aber mit wem konnte Rashid reden? Omar oder Ibrahim würden ihn nur fragen, weshalb er diesen Vorfall nicht gleich gemeldet, sondern so lange gewartet habe. Der Statthalter? Wollte Rashid etwa zum Statthalter gehen und ihm von Yussufs Fehltritt berichten? Aber welchen Nutzen hätte er davon?
Yussufs Gedanken waren wie ein Rad, das einen Abhang hinunterrollte
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