Die Wächter von Jerusalem
aller Hindernisse. Ebenso gut hätten Felsbrocken von der Größe eines Hauses vor der Tür liegen können. Ohne die Hilfe von Engeln oder Dschinnen würde Rashid dort nicht hineinkommen. Und bis es endlich so weit war, war es vermutlich bereits zu spät. Bis dahin hatten Ibrahim und Omar ihre Fäden gezogen und alles in die Wege geleitet, um Özdemir vom Thron zu stoßen. Es war zum Verrücktwerden.
Rashid ging auf und ab, auf und ab, während seine Finger mit dem Griff seines Säbels spielten.
»Wann ist der Statthalter zu einem Gespräch bereit?«
Saadi hielt im Schreiben inne und lächelte – freundlich, nichts sagend und unnachgiebig.
»Ich sagte doch bereits, dass er …«
»Ja, ich weiß«, zischte Rashid. »Er darf auf keinen Fall gestört werden – wobei auch immer. Könnt Ihr denn nicht begreifen , dass die Angelegenheit, von der ich den Statthalter unterrichten muss, von höchster Dringlichkeit ist? Habe ich Euch das noch nicht gesagt?«
»Doch, das habt Ihr bereits. Mehrmals, wenn Ihr mir diese Bemerkung gestatten wollt.« Saadi lächelte immer noch dasselbe nichtssagenden Lächeln. »Wie wichtig diese Angelegenheit wirklich ist, wird unser erhabener Statthalter Özdemir selbst entscheiden, wenn er bereit ist, Euch zu empfangen .«
Rashid ballte die Hände zu Fäusten, Fäuste, mit denen er am liebsten Saadis Nase eine neue Form verpasst hätte. Er biss die Zähne zusammen, dass es knirschte. Hier in diesem verdammten Schreibzimmer gab es nichts, woran er seine Wut auslassen konnte. Gar nichts, abgesehen von einem Mann, dem er nicht einmal sagen durfte, was er wirklich von ihm hielt. Er blieb stehen und wippte nervös auf den Zehenspitzen auf und ab.
»Wollt Ihr Euch nicht lieber setzen?«, fragte Saadi und deutete auf eines der Sitzpolster, die an der Wand aufgereiht auf dem Boden lagen.
»Nein.«
Saadi hob eine Augenbraue und tauchte seinen Kalam erneut in die Tinte vor ihm.
»Wie Ihr wollt«, sagte er gleichmütig und fuhr mit seiner Arbeit fort.
Rashid sah ihm eine Weile zu. Wie lange würde Saadi wohl brauchen, um aufzuspringen und nach den Wachen zu rufen? Wie lange würden die Wachen brauchen, um hier zu sein? Würde ihm wohl ausreichend Zeit bleiben, um an Saadi vorbei zur Tür zu stürmen, die Tür aufzureißen und zum Statthalter zu laufen, bevor er daran gehindert werden konnte?
Er zog diesen Gedanken gerade ernsthaft in Erwägung, als sich die Tür von innen öffnete und ein kleiner dünner Mann heraustrat , zu Saadi ging und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Saadi legte seinen Kalam zur Seite, erhob sich und ordnete umständlich seine Kleider, während Rashid ihn beobachtete, als hinge sein Leben davon ab. Dann endlich lächelte Saadi ihm zu.
»Bitte«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Der Statthalter ist jetzt bereit, Euch zu empfangen. Folgt mir.«
Doch Saadi ließ sich Zeit. Er schritt so langsam und bedächtig aus, dass Rashid den Verdacht hatte, es bereitete ihm Vergnügen, ihn zu ärgern. Und dann stand er endlich vor dem Thron des Statthalters. Rashid hatte so lange darauf gewartet und war so ungeduldig gewesen, dass er nicht sofort seine Sprache fand. Deshalb verneigte er sich nur. Der Statthalter musterte ihn eingehend.
»Salam«, sagte er höflich. »Ich glaube, dein Gesicht habe ich schon mal gesehen. Warst du nicht einer der Janitscharen, die meine Tochter bewacht haben? Ja, jetzt erinnere ich mich. Wir haben zweimal Schach miteinander gespielt. Du hast jedes Mal gewonnen.«
»Ja, Herr«, erwiderte Rashid. Er war nicht besonders stolz auf diese beiden Siege, denn Özdemir war zwar ein angenehmer Gegner, aber ein ausgesucht schlechter Spieler.
»Ich danke dir vielmals für deine treuen Dienste und deine Aufrichtigkeit«, fuhr Özdemir fort. »Nicht wenige deiner Kameraden hätten mich aus reiner Höflichkeit und natürlich auch wegen meines Amtes gewinnen lassen. Deshalb habe ich dir auch die Schachfiguren geschenkt. Du hast sie dir redlich verdient.« Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und Rashid fiel auf, wie müde er aussah. Seine Wangen wirkten eingefallen, seine Augen waren von dunklen Ringen umgeben, und tiefe Falten zogen sich von seiner Nase zu seinen Mundwinkeln. Er sah aus wie ein Mann, dem täglich neue Sorgen aufgebürdet wurden. »Aber du bist gewiss heute nicht zu mir gekommen , um dich nochmals für die Figuren zu bedanken oder dich erneut an meinen jämmerlichen Schachkünsten zu ergötzen . Weshalb wolltest du mich also sprechen? Saadi
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