Die Wächter von Jerusalem
noch viel zu früh, um zum Versammlungsort zu gehen. Und weshalb hatte er ihn nicht mitgenommen?
Stefano blieb unschlüssig stehen und überlegte, ob er dem Pater folgen sollte, als er plötzlich erneut Schritte den Hang herabkommen hörte. Er wandte sich um und traute seinen Augen nicht. Es war Pater Giacomo.
»Stefano!«, rief er schon von weitem. Er ging schneller als gewöhnlich und machte einen fröhlichen, ja, fast ausgelassenen Eindruck. »Stefano, ich habe Hunger. Hast du schon das Essen vorbereitet?«
»Nein, Pater, ich …«, stammelte Stefano und sah den Hang hinab. Er hatte doch eben mit eigenen Augen gesehen, wie Pater Giacomo im Eingang zu den Stollen verschwunden war. Wie war er dann wieder den Berg hinaufgekommen, ohne dass er ihn bemerkt hatte? Wie war das möglich?
»Stefano?« Pater Giacomo legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihn forschend an. »Stimmt etwas nicht?«
»Nein, Pater«, antwortete Stefano und blinzelte. Hatte er vielleicht geträumt? Hatte er nur eines dieser seltsamen Trugbilder gesehen, die es in der Wüste geben sollte? »Es ist nur …«
»Was?«
Stefano wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. Das war verrückt, das war doch nicht möglich. Ob es einen geheimen Gang zwischen den Stollen und der bevorzugten Gebetsstätte des Paters gab?
»Nein, Pater Giacomo, es ist wirklich nichts. Wahrscheinlich habe ich zu lange in der Sonne gesessen.«
»Wenn das so ist, mein Sohn, solltest du nicht länger hier draußen herumstehen. Komm mit mir in den kühlen Schatten der Hütte.« Pater Giacomo lächelte. Doch seine Augen, diese alles wissenden, zuweilen beängstigenden Augen schienen bis auf den Boden seiner Seele zu blicken. Er klopfte Stefano auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Stefano. Es gibt gute Neuigkeiten. Ich habe eine Botschaft empfangen. Endlich ist es so weit. Wir können uns rüsten. Der Herr selbst wird uns das nötige Werkzeug schenken, um den Kampf zu beginnen und siegreich zu beenden.« Er breitete die Arme aus und atmete tief ein. »Ist das nicht wunderbar?«
»Ja, Pater«, sagte Stefano rasch und sah wieder zu dem Busch hinunter, hinter dem vor kurzem ein anderer Mann, der Pater Giacomo bis aufs Haar glich, verschwunden war. Was hatte das zu bedeuten? Hatte er vielleicht einen Boten Gottes gesehen, einen Engel, der Pater Giacomos Gestalt angenommen hatte?
»Was stehst du da noch herum, Stefano?«, rief ihm Pater Giacomo zu. »Komm herein. Lass uns etwas essen. Bald geht die Sonne unter, und wir müssen uns auf den Weg machen. Heute ist wahrlich ein guter Tag. Unsere Brüder und Schwestern werden jubeln, wenn sie hören, was ich ihnen heute zu sagen habe. Endlich hat das Warten ein Ende.«
Stefano riss sich von dem Anblick des Stolleneingangs los. Wenn es wirklich ein Engel gewesen war, so war er jetzt gewiss wieder in den Himmel zurückgekehrt.
Und wenn nicht?, flüsterte ihm eine innere Stimme zu. Wenn es kein Engel war, sondern das Gegenteil? Wenn die Gerüchte , die es über diesen Ort gibt, wahr sind? Wenn nun Satan selbst in Pater Giacomos Gestalt geschlüpft war und … Unsinn!, schalt er sich selbst. Pater Giacomo ist ein Mann Gottes. Er hat sogar vom Blut Jesu Christi getrunken, das bei der Kreuzigung in einem Kelch aufgefangen worden war. Er würde eher sterben, als es zuzulassen, dass der Teufel sich seiner bemächtigte. Wenn er vorhin nicht doch geträumt oder ein Trugbild gesehen hatte, so war ein Bote Gottes an ihm vorübergegangen . Und das war nun wirklich kein Grund zum Fürchten. Das war ein Grund, auf die Knie zu sinken, den Herrn zu preisen und sich für die eigene Kleingläubigkeit zu schämen.
Stefano schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er ging in die Hütte zu Pater Giacomo, um ihnen ihr bescheidenes, aus Brot und ein wenig Käse bestehendes Abendessen zu richten. Und während er daran dachte und sich die braune Kruste und den herrlichen Geruch des frischen Brotes ausmalte, bekam auch er Hunger.
Der Prediger von Jerusalem
Anselmo stand am Fenster seines Zimmers und starrte hinaus in den Garten. Er beobachtete, wie die Sonne unterging und die Schatten im Innenhof immer länger wurden, bis er die einzelnen Sträucher schließlich in der hereinbrechenden Dunkelheit kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Er sah zu, wie Mahmud durch den Innenhof ging und die Lampen anzündete . Das Licht spiegelte sich auf dem Wasser des Brunnens , und der ganze Innenhof sah aus wie ein zum Fest geschmückter Ballsaal, in
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