Die Wächter von Jerusalem
und die Luke klappte auf wie das Maul eines entsetzlichen Untieres. Die Strohmatten blieben dabei an der Luke hängen, weil sie daran befestigt waren. Somit war die Luke auch dann getarnt, wenn sie von innen geschlossen wurde. Offenbar gab es so manchen findigen Geist in Giacomos Anhängerschaft.
In dem gähnenden Schlund, der sich zu Anselmos Füßen öffnete, wurden ein paar schmale Stufen sichtbar, die steil in die Tiefe führten. Dahinter war völlige Finsternis. Sie stiegen hinein.
»Komm, Bruder!«, forderte Elisabeth ihn auf, nachdem sie die Luke geschlossen und sich an ihm vorbeigedrängt hatte.
Anselmo schluckte. Er konnte wohl vieles ertragen – bei Licht, frischer Luft und dem freien Himmel über sich. Diese Luke hingegen sah aus, als würde sie in ein finsteres, enges, stickiges Kellerloch führen. Oder direkt in die Abgründe der Hölle.
»Nun komm schon, Bruder!«, zischte Elisabeth ihm zu und machte ungeduldig Zeichen. »Worauf wartest du noch? Wenn wir uns nicht beeilen, kommen wir noch zu spät.«
Bei der Heiligen Jungfrau! Was würde in dieser Nacht wohl noch von ihm verlangt werden? Am Ende würde er wohl doch noch Elisabeth küssen müssen. Anselmo holte tief Luft und tat das, was er bereits den ganzen Tag getan hatte. Er versuchte sich selbst davon zu überzeugen, wie wichtig es war, dass er mit Elisabeth zu dem Versammlungsort ging. Dann bekreuzigte er sich und stieg mit weichen Knien in die Tiefe hinab.
Nach etwa einem Dutzend Stufen hatte Anselmo wieder festen Boden unter den Füßen. Jetzt standen sie in völliger Finsternis. Anselmos Herzschlag beschleunigte sich, und die Angst legte sich wie eine eisige Hand um seinen Hals und drückte langsam und unerbittlich zu. Irgendwo in der Dunkelheit hörte er Geräusche – den keuchenden Atem von Elisabeth , ein Scharren, das Verschieben von Gegenständen. Anscheinend suchte sie was. Schließlich flammte etwas auf, und Anselmo wurde von einem Feuerschein geblendet. Elisabeth stand lächelnd vor ihm mit einer brennenden Fackel in der Hand. In diesem Moment hätte er sie umarmen können.
»Wie du siehst, sind wir gut ausgerüstet«, sagte sie und deutete auf einen Haufen achtlos in der Ecke liegender Bretter und Balken. »Dort liegen immer Fackeln bereit, denn ohne Licht ist es lebensgefährlich, zum Versammlungsort zu gehen. Hier gibt es überall Fallgruben, Schluchten und Spalten, in denen man sich zu Tode stürzen könnte.«
»Wo sind wir hier?«, fragte Anselmo und sah sich in dem niedrigen staubigen Gang um. Obwohl er an der linken Seite die großen Steinquader der Stadtmauer erkennen konnte, war er sicher, dass sie sich nicht in einem Gebäude befanden.
»Die Juden nennen es die ›Zedekia-Höhle‹«, erklärte sie ihm. »Sie behaupten, einer ihrer Könige habe sich hier vor seinen Feinden versteckt.« Sie lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht. »Jetzt gehören die Stollen uns. Und in einigen Jahren wird man sie gewiss ›Giacomo-Höhle‹ nennen, weil der ehrwürdige Pater hier in den Tagen vor dem Kreuzzug seine Predigten gehalten hat. Komm, Bruder Anselmo. Ich gehe voraus. Aber gib gut Acht, überall sind geheime Zeichen angebracht, um den Brüdern und Schwestern den Weg zu weisen. Präg sie dir gut ein, damit du den Weg zu unseren Versammlungen in Zukunft auch allein finden kannst.«
Keine Sorge, dachte Anselmo grimmig, das werde ich. Und während er hinter Elisabeth herging und aufmerksam auf jeden Stein, jeden Wachsfleck, jedes eingeritzte Zeichen, jedes niedergelegte Stöckchen und auf jede Abzweigung achtete, vergaß er sogar seine Angst vor der Dunkelheit und Enge der Stollen.
Sie bogen in einen besonders schmalen, verwinkelten Gang ein. Und Anselmo war überrascht, als er sich dann plötzlich zu einer großen Höhle öffnete. Es war ein Anblick, als stünde er auf der Empore des Doms in Florenz und würde in den Altarraum hinabblicken. Für die fast überirdische Schönheit der Höhle hatte Anselmo jetzt keinen Sinn. Er starrte auf die Menschen hinunter und bekam eine Gänsehaut. Es war eine schier unvorstellbare Zahl. Giacomos Anhänger saßen überall auf den Steinen, auf dem Boden, auf den Vorsprüngen der Felswände. Und wer gar keinen Platz mehr gefunden hatte, war einfach stehen geblieben. Sie unterhielten sich leise. Doch es waren so viele Menschen, dass es sich trotzdem anhörte wie das Summen in einem Wespennest. Eisige Schauer liefen über Anselmos Rücken.
»Nun, was sagst du, Bruder?«, fragte Elisabeth
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