Die Wächter von Jerusalem
dem die Mücken und Nachtfalter ihre bizarren, aber dennoch schönen Tänze aufzuführen begannen.
Aus den geöffneten Fenstern des Speisezimmers, das direkt unter seinem Zimmer lag, drang Elisabeths keifende Stimme. Die Köchin beschimpfte wieder einmal die arme Esther. »Faulenzerin«, »dummes Ding« und »Schlampe« waren nur einige der weniger schlimmen Schimpfworte, die Anselmo aufschnappte. Esthers Stimme hingegen war nicht zu hören. Wahrscheinlich stand sie mit gesenktem Kopf vor Elisabeth und ließ alles über sich ergehen. Anselmo hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Er sah Esther noch vor sich, als sie mit ihm über Elisabeth gesprochen hatte – ihr wachsendes Selbstvertrauen, ihren aufkeimenden Stolz, das plötzliche Funkeln in ihren Augen. Und er sah sie vor sich, nur kurze Zeit später, als er angefangen hatte, sie ebenfalls zu beschimpfen. Elisabeths Worte hatten die Kleine bisher getroffen wie Peitschenhiebe, sie hatten ihr nur wehgetan. Doch was er getan hatte, hatte ihr das Herz gebrochen.
Anselmo schloss die Augen und umklammerte den Fenstersims . Er hasste sich für jede Stunde der letzten Tage. Jedes Mal, wenn er Esther begegnete, sah sie ihn an wie ein Lamm, das geschlachtet werden sollte und davon wusste. Er hatte Esthers Vertrauen missbraucht, er hatte ihren Stolz zerstört. Ein- oder zweimal hatte er versucht, Esther heimlich zur Seite zu nehmen und mit ihr zu reden. Er wollte ihr alles erklären, ihr sagen, weshalb er so gemein zu ihr war – gemein sein musste . Es ging doch schließlich darum, Giacomo de Pazzi das Handwerk zu legen. Dem Prediger Giacomo, der so gefährlich war, dass sogar der Statthalter von Jerusalem und die Janitscharen hinter ihm her waren. Doch er konnte es nicht. Noch nicht. Er durfte den Erfolg seines Auftrags unter gar keinen Umständen gefährden. Doch sobald alles vorbei war, würde er mit Esther sprechen. Er würde versuchen, es ihr zu erklären, und sie um Vergebung bitten. Vielleicht würde sie es sogar verstehen. Und vielleicht würde dann auch eines Tages wieder dieses Funkeln in ihre Augen zurückkehren. Er hoffte es von ganzem Herzen.
Wo bleibt denn nur Elisabeth?, dachte er und verlagerte das Gewicht auf das andere Bein. Cosimo war vom Statthalter eingeladen worden, und Anne leistete Rashid Gesellschaft. Er hingegen stand hier am Fenster und wartete darauf, dass eine Frau, die er nicht mochte, ihn abholte und zu einem Mann brachte, den er hasste, um dort eine Predigt zu hören, deren Inhalt ihn schon jetzt zum Würgen brachte.
Toll, dachte er. Warum bleibt die Dreckarbeit immer nur an mir hängen?
Die Lampen im Innenhof verloschen. Erst fiel es Anselmo gar nicht auf, doch dann sah er, dass die Lichter hektischer zuckten, und sich die Schatten immer weiter zwischen den Büschen ausdehnten. Die Grillen im Innenhof beendeten eine nach der anderen ihr Konzert. Auch im Haus wurde es allmählich still. Elisabeths Stimme hörte er schon lange nicht mehr. Und die dumpfen Geräusche von Schritten in Annes Zimmer nebenan verklangen. Schließlich ging das letzte Licht im Innenhof aus. Es war dunkel, es war Nacht.
»Wo zum Teufel bleibt Elisabeth?«
Es klopfte an seiner Tür, zaghaft und leise, kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte. Anselmo fuhr zusammen und starrte auf die Tür, als könnte dort tatsächlich Satan in voller Gestalt auf der Schwelle erscheinen. Er hielt den Atem an, sein Herz klopfte bis zum Hals, und er fragte sich, ob er aus Unwissenheit einen Zauber gesprochen hatte, mit dem sich die Pforten der Hölle öffnen ließen. Dann klopfte es wieder. Diesmal schon etwas lauter.
»Bruder Anselmo? Bist du da?«
Anselmo atmete aus. Dies war gewiss nicht die Stimme eines Dämons. Es war Elisabeth. Sie kam, um ihn zur Versammlung abzuholen. Endlich hatte die Warterei ein Ende. Und mit ein wenig Glück brauchte er morgen nicht mehr Elisabeths Predigten und Hetztiraden zu lauschen und sich von ihr » Bruder « nennen zu lassen. Dann würde er endlich wieder Anselmo sein dürfen. Und Elisabeth aus dem Haus werfen. Das hatte er sich geschworen, selbst wenn er danach jahrzehntelang nur noch von Hammelfleisch leben musste.
Es klopfte zum dritten Mal.
»Bruder?« Anselmo sah, wie sich die Klinke langsam bewegte , und er stürzte zur Tür. Um keinen Preis der Welt wollte er Elisabeth über die Schwelle seines Zimmers lassen. Er wusste selbst nicht, weshalb sich sein Inneres so dagegen auflehnte . Aber allein bei der Vorstellung, mit Elisabeth
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