Die Wächter von Jerusalem
keine unnötige Zeit mit einem alten Mann«, sagte Cosimo, und er sah sie dabei an, als wüsste er genau, woran sie eben gedacht hatte und gegen welche Dämonen sie gerade kämpfte. »Rashid wird Euch gewiss schon vermissen. Der Arme hat zur Zeit wahrlich nicht viel Zerstreuung . Aber wartet noch einen Moment.« Er erhob sich, ging zu dem Bücherregal, in dem sich das Geheimfach verbarg, und öffnete es. »Zeigt ihm die Zeichnung und übersetzt ihm den Brief. Er ist ein kluger Kopf. Außerdem kennt er die Stadt besser als wir alle zusammen. Vielleicht hat er eine Idee, an welchem Ort wir nach dem Pergament suchen sollen. Und es wird ihn wenigstens für kurze Zeit auf andere Gedanken bringen. Und Euch ebenfalls.«
Anne nahm das Pergament an sich.
»Danke«, sagte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hätte Cosimo gern umarmt, aber sie wagte es nicht. Sie waren Freunde, ohne Zweifel. Vielleicht hatte sie in Cosimo de Medici sogar den besten Freund gefunden, den sie jemals hatte. Und doch lag eine Distanz zwischen ihnen, die ihr derartige Gefühlsäußerungen verbot. Cosimo war durch und durch aristokratisch, er war kühl, unnahbar und ganz gewiss nicht der Mann, den man einfach aus einer Laune heraus umarmte.
Stefano stand vor der Hütte und erfreute sich am Anblick der Stadt, die vor ihm auf dem Hügel lag wie eine kostbare, im Sonnenlicht schimmernde Perle auf einem Seidenkissen. Jerusalem , Tochter Zion, die Heilige Stadt. Wie schön sie war, so wunderschön, dass ihm bei ihrem Anblick fast die Tränen in die Augen traten. Er blinzelte in das gleißende Sonnenlicht, wandte sich ab und kehrte in die Hütte zurück, um seine Aufgabe zu erfüllen. Er war damit beschäftigt, das Gewand zusammenzulegen , das Pater Giacomo an diesem Abend während der Messe tragen würde. Und er versah diese Aufgabe sorgfältig, Falte für Falte, damit auch nicht das kleinste Eckchen Stoff verknitterte und somit die Andacht stören konnte. Er liebte diese Arbeit. Wenn seine Finger über den feinen purpurfarbenen Stoff mit dem mit Goldfaden aufgestickten Kreuz glitten, dann war es für ihn, als ob er beten würde. Er erinnerte sich gut an die Worte, die der Abt ihres Klosters in den Bergen von Umbrien immer wieder gesagt hatte: »Lobe den Herrn in den unscheinbaren Werken, Stefano. Lobe ihn in der Art, wie du Brot schneidest, die Pflanzen im Garten gießt oder das Geschirr reinigst. Und finde Gott in den kleinen Dingen, im Gesang der Vögel, im Murmeln der Quelle, im Wind.« Und in den Falten eines Messgewandes, fügte er in Gedanken hinzu, während er das Gewand zu einem handlichen Bündel zusammenlegte , das gut in seine lederne Tasche passte und sich auf diese Weise bequem und sicher durch die zum Teil überaus unwegsamen Stollen tragen ließ.
Wenn die Sonne am Horizont zu versinken begann, würden sie sich auf den Weg machen, um zum geheimen Versammlungsort tief unter den Grundmauern der Stadt zu gelangen. Ein geheimer Eingang zu den unterirdischen Stollen war nicht weit von ihrer Hütte entfernt. Wenn er aus der Tür trat, konnte er ein Stück den Hang hinunter den Busch sehen, der den Eingang vor den Blicken von Wanderern und Hirten verbarg . Obgleich sich selten ein Mensch hierher verirrte. Die Hirten schienen diesen Ort zu meiden. Möglicherweise lag es an den Gerüchten, die sich um diese Hütte rankten.
Stefano legte das Messgewand behutsam in seine Tasche und setzte sich dann auf die Türschwelle, um Jerusalem zu betrachten . Seine Arbeit hatte er getan. Jetzt musste er nur noch auf Pater Giacomo warten, der weiter oben auf dem Berg in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit betete. In letzter Zeit ging er immer öfter allein dort hinauf. Meist verließ er schon kurz vor Sonnenaufgang die Hütte und kehrte erst wieder zurück, wenn es Zeit wurde aufzubrechen, um in die Stollen zu gehen.
Deshalb war Stefano überrascht, als er plötzlich Schritte den Hang herunterkommen hörte. Es war Pater Giacomo. Stefano sprang hastig auf, weil er von dem Pater nicht beim Faulenzen erwischt werden wollte, doch seine Sorge war unbegründet . Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, ging Pater Giacomo an der Hütte vorbei und weiter den Hang hinab. Stefano wollte ihm winken und ihn fragen, ob er eine Mahlzeit richten solle, doch sein Arm blieb in der Luft erhoben stehen, und die Worte stockten ihm in der Kehle. Er sah, wie Pater Giacomo hinter dem Busch im geheimen Eingang zu den Stollen verschwand . Aber warum tat er das? Es war doch
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