Die Wächter von Jerusalem
mit der stolzen Freude eines Menschen, der einem Freund sein gerade fertig gestelltes Haus zeigt. »Ist das nicht wunderbar?«
»In der Tat unbeschreiblich«, murmelte Anselmo und versuchte abzuschätzen, wie viele Menschen hier versammelt waren . Dreihundert? Wahrscheinlich sogar noch mehr. Viel mehr. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass Giacomo bereits so viele Anhänger um sich geschart hatte.
»Ja, und es sind wieder mehr geworden als das letzte Mal. Komm, lass uns nach unten gehen. Vielleicht finden wir dort noch einen freien Platz.«
Anselmo folgte ihr widerstrebend. Von hier oben hatte man nicht nur den besseren Überblick, man war auch dem Ausgang ein Stückchen näher. Trotzdem stieg er hinter Elisabeth die behelfsmäßigen Stufen hinunter. Dabei kam er sich vor, als würde er tiefer und tiefer in eine Grube voller giftiger Nattern klettern. Unwillkürlich zog er sich die Kapuze seines Mantels tiefer ins Gesicht. Die Männer und Frauen, an denen er vorbeikam, wandten sich ihm zu. Sie nickten, lächelten freundlich und klopften ihm auf die Schulter, als wollten sie ihn zu einem Sieg beglückwünschen. Würden sie wohl auch dann noch lächeln, wenn sie wüssten, dass er nur hier war, um ihren Versammlungsort auszukundschaften und an den Statthalter zu verraten?
Eine Glocke läutete hell und wohlklingend in dieser hallenartigen Höhle, und augenblicklich erhoben sich alle Versammelten von ihren Plätzen. Schweigend blickten sie zu einem Felsen empor, auf dem zwei Männer erschienen. Der Erste war groß und ein bisschen mager. Er trug das schlichte Gewand eines Mönchs, hatte die Hände in den weiten Ärmeln verborgen und hielt den Kopf demütig gesenkt.
Stefano, dachte Anselmo, Annes Sohn. Giacomos Faktotum.
Er ließ Stefano nicht aus den Augen und beobachtete, wie er einen Schritt zurücktrat, um dem zweiten Mann Platz zu machen . Und dann trat Giacomo auf den Felsen, angetan mit dem purpurfarbenen Festgewand eines Priesters, ein riesiges aufgesticktes goldenes Kreuz prangte auf seiner Brust. Er lächelte auf die Versammelten herab und breitete die Arme aus.
»Brüder und Schwestern!«, rief er, und seine Stimme dröhnte in der Höhle wie Donnerhall. »Seid willkommen im Namen des Herrn!«
»Amen!« – »Amen!« – »Amen!«, erklang es aus allen Mündern . Auch Elisabeth rief begeistert und mit einem entzückten Lächeln: »Amen!«
Anselmo spürte, wie sich die Härchen auf seiner Haut aufrichteten . Ja, er konnte plötzlich die Faszination verstehen, die all diese Menschen immer wieder hierher in das Labyrinth der Höhlen trieb, und die sie verleitete, auch andere mitzuschleppen.
»Heute verkünde ich euch große Freude, Brüder und Schwestern!«, rief Giacomo. »Das Warten hat ein Ende!«
Giacomo de Pazzi stand mit ausgebreiteten Armen auf dem Felsen, strahlte über das ganze Gesicht und sah die zu seinen Füßen versammelte Menge an, als wollte er jeden Einzelnen von ihnen umarmen. Und Anselmo ertappte sich dabei, dass er gemeinsam mit den anderen in die Halleluja-Rufe einstimmte, obgleich er nicht einmal wusste, worauf sie alle angeblich gewartet hatten. Giacomo machte eine Pause, bis sich die Menge etwas beruhigt hatte, dann sprach er weiter.
»Brüder und Schwestern, ich habe eine Botschaft empfangen . Endlich können wir uns erheben und mit dem Schwert des Glaubens die Frevler von den heiligen Stätten vertreiben. Endlich können wir als Streitmacht des Herrn die Hindernisse beseitigen, die der Ankunft Gottes in Herrlichkeit im Wege stehen. Und wenn wir diese heilige Aufgabe beendet haben, wenn die Frevler vertrieben und alle Hindernisse beseitigt sind, werden wir in der Heiligen Stadt dem Herrn, unserem Gott, dienen, wie es Seiner würdig ist. Wir werden Ihn ehren, und Er wird Seine Stadt wieder bewohnen, und das Kreuz wird sein Licht aussenden in alle Welt, so wie Er es geplant hat vor aller Zeit.«
Tosender Jubel brandete auf. Stefano begab sich an den Rand des Felsens und beruhigte die Menge. »Ruhig, Brüder und Schwestern! Ruhig! Lasst uns hören, was Pater Giacomo noch zu sagen hat.« Dann trat er wieder in den Schatten zurück.
Die Menschenmenge verstummte.
»Brüder und Schwestern«, fuhr Giacomo fort. »Wir werden mit dem Schwert des Glaubens die Frevler besiegen. Gegen den Herrn oder für den Herrn, etwas anderes gibt es nicht. Und das muss unser Schlachtruf sein. Wir sind das Ross, auf dem der Herr die Schlacht anführt, und wir werden Ihm dienen bis zum letzten
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