Die Wächter von Jerusalem
hier war? So wie Cosimo ihn einschätzte, würde er wohl nie wieder eine andere Frau ansehen. Und dann? Er war weder ein Bauer noch ein Händler. Er war ein Soldat. Ein Soldat ohne Armee, ohne Familie, ohne lohnende Aufgabe. Die Wirtshäuser, Spielhöllen und Bordelle auf der ganzen Welt waren voll mit solchen gestrandeten Seelen. Rashid war höchstens etwas über zwanzig Jahre alt. Wenn er Pech hatte, würde ein langes, einsames Leben vor ihm liegen.
Cosimo hatte sich gerade in sein Zimmer zurückgezogen und entkleidet, um noch die wenigen Stunden bis zum Tagesanbruch zu schlafen, als es an seiner Tür klopfte. Zu seiner Überraschung stand Anselmo vor ihm. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet, seine Augen weit aufgerissen, und er keuchte, als wäre er vor den Feuern der Hölle auf der Flucht. Er wartete kein Wort von Cosimo ab, sondern stürmte förmlich an ihm vorbei ins Zimmer und warf sich rücklings aufs Bett, als hätte ihn der Schlag getroffen.
Cosimo runzelte missbilligend die Stirn, sagte aber nichts. Trotz ihrer mittlerweile schon fast lebenslang andauernden Freundschaft war immer ein letzter Rest von Distanz zwischen ihnen geblieben, eine schmale Trennlinie, die keiner von beiden anzutasten wagte. Wenn Anselmo nun diese unsichtbare Grenze überschritt, so musste es dafür einen triftigen Grund geben. Also nahm Cosimo in seinem Lieblingssessel am Fenster Platz und wartete, bis Anselmo sich so weit erholt hatte, dass er ihm berichten konnte. Und tatsächlich setzte er sich nach kurzer Zeit auf und strich sich das feuchte Haar aus der schweißnassen Stirn.
»Verzeiht, Cosimo, aber …«
»Schon gut, Anselmo. Erzähl. Warst du mit Elisabeth bei Giacomos Versammlung?«
»Und ob ich da war«, sagte Anselmo und nickte grimmig. »Ich habe ihn predigen hören. Und ich sage Euch, dieser Mann ist verrückt, er ist wahnsinnig, komplett übergeschnappt! Sie alle sind wahnsinnig. Diese …«
»Der Reihe nach, Anselmo«, unterbrach ihn Cosimo, obwohl er innerlich keineswegs so ruhig war und am liebsten alles sofort und in einem Satz gehört hätte – wo sich der Versammlungsort befand, was Giacomo von sich gegeben hatte, wie viele Anhänger er hatte, alles. Aber vielleicht war dies einer der wenigen Vorteile seines hohen Alters – er war mit den Jahren, die ihm das Elixier der Ewigkeit zusätzlich zu seiner natürlichen Lebensspanne geschenkt hatte, wenigstens ein bisschen weiser geworden. Und er wusste, dass es nur zu zeitraubenden Missverständnissen führen würde, wenn Anselmo mit dem Ende begann. »Erzähl bitte der Reihe nach, damit ich dir folgen kann.«
Anselmo erhob sich abrupt und begann durch das Zimmer zu wandern, als wäre er noch nicht genug gelaufen.
»Also gut«, sagte er und fing an so lebhaft zu gestikulieren, wie es seine Art war, wenn er sich aufregte. »Es lief alles genauso , wie wir es geplant haben. Elisabeth hat mich abgeholt, sobald es im Haus still war, und ist mit mir zu dem geheimen Treffpunkt gegangen.« Anselmo lachte auf. »Kein Wunder, dass ihn bisher niemand ausfindig machen konnte. Er liegt nämlich nicht irgendwo in einem Gebäude oder vor den Toren Jerusalems, nein, er liegt direkt unter unseren Füßen – unter der Stadt.«
»Unter der Stadt?«
»Jawohl, Ihr habt richtig gehört, Cosimo. Glaubt mir, bis zum heutigen Tag habe ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorstellen können, was ich heute gesehen habe. Unterirdische Gänge, Höhlen und Stollen, Schluchten und Abgründe – ein riesiges Labyrinth, eine Stadt unter der Stadt. Und dort treffen sich Giacomos Anhänger, um seine Predigten zu hören. Sie haben es sehr geschickt angestellt. Der Eingang zu den Stollen ist gut getarnt, Fackeln liegen in einem Versteck bereit, und der Weg zum Versammlungsort ist durch geheime Zeichen markiert, die Uneingeweihte nie im Leben entdecken würden. Wer es dennoch wagt, auf eigene Faust danach zu suchen , wird sich entweder jämmerlich verirren, oder in einer der unzähligen Fallgruben zu Tode stürzen.«
»Beeindruckend. Ich hoffe, du hast dir den Weg gemerkt?«
»Natürlich«, erwiderte Anselmo beleidigt und tippte sich an die Schläfe. »Ich habe mir alles ganz genau eingeprägt. Sonst hätte ich den Weg wohl kaum wieder allein zurückgefunden . Der eigentliche Versammlungsort ist eine Höhle, groß wie eine Kathedrale. Und leider auch ebenso voll.« Anselmo zog die Schultern zusammen, als ob ihm ein Schauer über den Rücken laufen würde, und
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