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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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irgendwo ein wenig des kostbaren Farbpulvers zu stehlen . Mittlerweile waren die Farben natürlich ziemlich verblasst . Das Gelb, Grün und Rot der Rhomben konnte man nur noch erahnen. Doch wenn er sein Gesicht im Stoff vergrub und tief einatmete, vermochte er sie immer noch wahrzunehmen – die Gerüche des Marktes, den Duft von Würsten, Brot und Gewürzen. Anselmo legte das Kostüm zur Seite und holte weitere Gegenstände aus der Truhe hervor. Da war ein schmaler Streifen aus glattem schwarzem Leder. Er selbst hatte die Löcher für die Augen hineingeschnitten und mit einer geliehenen Nadel umsäumt. Mit dieser Maske hatte er jedes Mal sein Gesicht unkenntlich gemacht, bevor er auf dem Markt seine Späße getrieben hatte. Die Kappe mit den mehr als zwei Dutzend Schellen, die bei jeder Bewegung leise klingelten. Der mit bunten Bändern umwickelte Stab …
    Mit einer heftigen Bewegung schlug Anselmo den Deckel der Truhe zu, erhob sich und trat ans Fenster. Er presste die Stirn gegen die Scheibe. Das Glas war angenehm kühl, obwohl die Luft draußen auf der Dachterrasse vor Hitze flimmerte .
    In den ersten Jahren, nachdem er das geheimnisvolle Elixier der Ewigkeit getrunken hatte, das nicht nur Reisen in die Vergangenheit ermöglichte, sondern auch das Leben verlängerte, hatte er das alles als Spaß empfunden. Die Vorstellung, nicht sterben zu können, sondern ewig zu leben, hatte ihm gefallen. Bis er die Kehrseite kennen gelernt hatte. Er hatte zwar immer versucht, das Beste aus der Situation zu machen, sich an die Veränderungen in der Stadt, im Land und in der Welt zu gewöhnen , aber dennoch war er immer noch überrascht, wenn er eine der ihm seit Ewigkeiten vertrauten Straßen in Florenz entlangging und plötzlich in einem Park stand, den es dort früher nicht gegeben hatte. Manchmal kam es ihm so vor, als würde sich die Welt um ihn herum immer schneller drehen. Oder lag es einfach daran, dass er selbst sich so wenig änderte – trotz all der Jahre, die mittlerweile seit dem Tag seiner Geburt verstrichen waren? Ja, er konnte Cosimo verstehen. Manchmal sehnte auch er sich danach, endlich sterben zu können . So wie all jene Menschen, die er im Laufe seines Lebens geliebt hatte.
    Anselmo schlug mit der flachen Hand gegen die Scheibe.
    »Verdammt, das muss wohl ansteckend sein!«, sagte er wütend zu seinem Abbild, das sich schwach auf der Fensterscheibe spiegelte. »Hör auf damit. Wenn du schon von Cosimo verlangst, sich von seinem Teeservice zu trennen, so solltest du wenigstens mit gutem Beispiel vorangehen und dieses Narrenkostüm in den Müll werfen.«
    Er holte tief Luft. Ja, das würde er tun. Er würde endlich das Kostüm wegwerfen, verbrennen, verschenken – was auch immer. Jetzt. Gleich. Gleich morgen früh …
    Annes Welt
    Anne Niemeyer spürte das Ruckeln des Zuges und hörte das Rattern der Räder auf den Schienen. Draußen rauschte die Landschaft an ihr vorbei, und mit jeder Sekunde, die verstrich, ließ sie Florenz weiter hinter sich. Florenz und alles, was sie dort erlebt hatte – oder wenigstens glaubte erlebt zu haben. Florenz. War sie überhaupt dort gewesen? Im Augenblick kam ihr alles so unwirklich vor: Das mittelalterliche Kostümfest, ihre Begegnung mit ihrem Gastgeber Cosimo Mecidea, das geheimnisvolle Elixier der Ewigkeit, das der Dreh- und Angelpunkt ihrer Erlebnisse zu sein schien. Selbst ihre Reise nach Florenz und der Auftrag, für das Frauenmagazin, für das sie arbeitete, über das dortige Calcio in Costume zu berichten, kam ihr vor wie eine Begebenheit aus einem Film. Es schien alles so weit weg zu sein. Einfach irreal.
    »Frau Niemeyer!«
    Die Stimme der Arzthelferin riss Anne aus ihren Gedanken, und plötzlich wurde sie sich wieder ihrer Umgebung bewusst. Sie sah den taubenblauen Filzteppich zu ihren Füßen, die mit schwarzem Kunstleder bezogenen Chromstühle, den niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem sich Zeitschriften und Prospekte stapelten, den Wasserspender, die Garderobenhaken . Dies war nicht mehr das Abteil erster Klasse im Zug von Florenz nach Hamburg. Dies war das Wartezimmer ihrer Frauenärztin. Und was sich vor dem Fenster ständig bewegt hatte, waren nur die Blätter des Baumes vor dem Haus, mit denen Wind und Sonne ihr Spiel trieben. Sie erinnerte sich daran, dass sie nach ihrer Ankunft in Hamburg direkt hierher gefahren war. Doch selbst diese Erinnerung war dunkel und nebulös , so als wäre gar nicht sie es gewesen, die am Bahnhof in ein Taxi

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