Die Wächter von Jerusalem
dorthin.«
Anselmo biss die Zähne zusammen und ballte die Hand zur Faust. Nur mühsam unterdrückte er den Wunsch, Cosimo die Schale aus der Hand zu schlagen und sie genauso wie auch den Rest des Services in einen Scherbenhaufen zu verwandeln. Doch er beherrschte sich. Stattdessen nahm er Cosimo behutsam die Tasse aus der Hand und kniete vor dem Sessel nieder, sodass Cosimo ihm ins Gesicht sehen konnte, ohne den Blick heben zu müssen.
»Cosimo, lass es nicht zu, dass die Schwermut und die Dunkelheit von deinem Verstand und deinem Herzen Besitz ergreifen . Dies ist nur die Laune des Augenblicks, die Nachwehen des Festes, wie du sie jedes Jahr verspürst. Und sie wird auch wieder vergehen. Wie jedes Mal. Du musst es nur zulassen.«
Cosimo sah ihn an. Sein Blick war so trostlos, so voller Aussichtslosigkeit und Verzweiflung, dass es Anselmo die Kehle zuschnürte.
»Vielleicht hast du Recht. Aber ich bin müde, Anselmo«, er rieb sich die Augen »so entsetzlich müde. Ich sehne mich nach der kühlen Ruhe, dem stillen Frieden der Gruft. Vielleicht kannst du mich verstehen. Vielleicht …«
Anselmo erhob sich. Natürlich konnte er Cosimo verstehen . Trotzdem. Er hatte in seinem Leben schon oft schwere Zeiten durchgemacht. Er hatte eine Woche lang angekettet auf dem Pranger stehen müssen, weil man ihn beim Stehlen erwischt hatte. Er war von seinen Ziehvätern grün und blau geprügelt worden, weil seine Diebesbeute unter ihren Erwartungen geblieben war. Es hatte Tage gegeben, an denen er vor Hunger kaum mehr hatte stehen können und sich seine Eingeweide zu einem schmerzhaften Klumpen verwandelt hatten. Doch er hatte sich davon nicht unterkriegen lassen. Er hatte gekämpft, bis er schließlich alt genug gewesen war, seine eigenen Wege zu gehen. Und als niemandem als sich selbst verantwortlichem Dieb zu leben. Und er war auch nicht bereit, jetzt aufzugeben. Sie alle – seine Ziehväter, die unbarmherzigen Richter, die fetten Kaufleute, die ihre Essensreste lieber in die Gosse warfen als sie den hungrigen Bettlern vor ihrer Haustür zu geben – sie alle waren tot und begraben. Doch er lebte. Jetzt. Hier. Die Vergangenheit war vorbei. Was zählte, war die Gegenwart. Und die Tage, die noch vor ihnen lagen, ganz gleich, wie viele es noch sein mochten.
»Wahrscheinlich wird es nicht mehr lange dauern, Cosimo, bis dein Wunsch in Erfüllung geht«, sagte er mit dem festen Willen, Cosimo aus seinem tiefen Loch herauszureißen. » Signorina Anne war schließlich da. Sie war am Samstagabend auf dem Fest. Du selbst hast mit ihr gesprochen. Der Stein ist ins Rollen gekommen.«
»Ja, Anselmo, der Stein ist ins Rollen gekommen. Endlich. Doch ich weiß nicht, wann ich sie wiedertreffen werde. Wann ich sie auf ihre nächste Reise schicken kann. Und ich weiß schon gar nicht, wann es ihr gelingen wird, uns endlich das Gegenmittel zu beschaffen. Es mögen bis dahin nur zehn Wochen sein. Vielleicht auch weniger. Doch ebenso gut kann es noch zehn Jahre dauern. Oder gar mehr.«
»Wenn dich der Gedanke an die Wartezeit quält, weshalb machst du nicht den ersten Schritt?«, schlug Anselmo vor. »Wir kennen ihren Namen. Wir wissen, dass sie aus Hamburg kommt. Es sollte leicht sein, sie ausfindig zu machen und um ein Treffen …«
»Nein, Anselmo!«, unterbrach Cosimo ihn heftig. »Du weißt, dass ich geschworen habe, mich nicht in den Lauf der Dinge einzumischen. Und daran halte ich mich.«
»Ja, Cosimo, aber …«
»Nichts aber. Wir werden warten, bis Anne Niemeyer sich bei uns meldet. Ganz gleich, wie lange es dauern mag.«
Anselmo verzog das Gesicht. Er kannte Cosimos Ansicht darüber, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, zur Genüge . Doch in diesem Fall war das Abwarten falsch, vielleicht sogar die größte Dummheit, die sie begehen konnten. Cosimo hatte wohl vergessen, dass er sich bereits vor Jahrzehnten aus den Telefon- und Adressenlisten der Behörden hatte streichen lassen. Anne Niemeyer würde es nahezu unmöglich sein, Cosimos Adresse oder Telefonnummer ausfindig zu machen. Nicht einmal Giancarlo kannte sie, dabei zählte er zu Cosimos engeren Freunden. Sie würde also nach Florenz kommen und darauf hoffen müssen, ihnen irgendwann einmal wieder über den Weg zu laufen. Und welcher Mensch mit Verstand würde das tun? Wenn sie darauf warteten, würden wohl noch fünfzig Jahre vergehen. Anselmo biss sich auf die Lippe. Also würde er nachhelfen. Er hatte niemals geschworen, sich aus dem Lauf des Schicksals
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