Die Wächter von Jerusalem
gestiegen war und dem Fahrer die Adresse ihrer Frauenärztin genannt hatte.
»Frau Niemeyer, kommen Sie bitte mit.«
Schwerfällig und mit bleiernen Gliedern erhob sich Anne und folgte der Arzthelferin durch den kurzen Flur. Rechts und links befanden sich Türen. Hinter einer war das gleichmäßige Fauchen eines Wehenschreibers zu hören. Eine andere Tür stand offen. Auf einem Stuhl saß eine junge Frau, der gerade Blut abgenommen wurde. Sie lachte über einen Scherz der Arzthelferin und streichelte dabei ihren ausladenden Bauch.
Diese Frauen sind schwanger, dachte Anne. Sie sind alle schwanger und wissen es. Man kann es sehen. Sie können es fühlen. Aber was ist mit mir?
Sie biss sich auf die Lippe und war froh, als die Arzthelferin die Tür des Sprechzimmers hinter ihr schloss. So brauchte sie wenigstens nichts mehr zu hören und zu sehen.
Anne ließ sich langsam auf den Stuhl vor dem Schreibtisch niedersinken und sah aus dem Fenster. Die heruntergelassenen Jalousien verhinderten den Blick nach draußen. Doch in ihrer Fantasie sah sie statt in den Garten einer Hamburger Jugendstilvilla aus einem Fenster eines florentinischen Palazzo. Sie blickte auf Straßen, die von Pferdekutschen befahren wurden. Geistesabwesend streichelte sie ihren Bauch. Er war flacher als noch vor kurzer Zeit. Es war natürlich ausgeschlossen , dass man innerhalb eines Wochenendes schwanger werden und ein gesundes Kind gebären konnte. Und doch hatte sich alles so echt angefühlt, viel realer als das, was sie jetzt erlebte. In diesem Traum- oder Rauschzustand, in den sie das Elixier versetzt hatte, hatte sie Giuliano de Medici geliebt . Sie hatte ein Kind von ihm erwartet. Und dieses Kind hatte man ihr geraubt. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie daran dachte. Als die Tür endlich aufging, erschrak sie und war gleichzeitig erleichtert. Bald würde sie es wissen, bald würde sie Gewissheit haben.
»Guten Tag, Frau Niemeyer«, sagte die Ärztin, reichte ihr die Hand und nahm dann hinter ihrem Schreibtisch Platz. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe starke Blutungen«, sagte Anne.
Die Ärztin sah sie an. Keinesfalls neugierig oder gar abschätzend , nur ganz sachlich.
»Seit wann haben Sie diese Blutungen?«
Anne überlegte. Heute war Montag. Es war kaum vorstellbar , dass sie gestern noch in Florenz gewesen war. Es kam ihr vor, als wären mittlerweile Jahre vergangen. Und doch waren es nicht einmal vierundzwanzig Stunden.
»Seit gestern«, antwortete sie. »Sie setzten gleich am Morgen nach dem Aufstehen ein. Außerdem fühle ich mich nicht besonders gut.«
Die Ärztin blätterte mit gerunzelter Stirn in Annes Karteikarte .
»Bisher haben Sie mir nichts von starken Blutungen berichtet . Ist es das erste Mal?«
Anne nickte. Sie presste die Lippen aufeinander. In ihren Augen brannten Tränen, die mit aller Macht hervorbrechen wollten.
»Hatten Sie Fieber, Schmerzen oder einen Unfall?«
Anne schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. Das Wort kam ihr leicht über die Lippen, so leicht. Eigentlich hasste sie Lügen . Aber sie wusste ja selbst nicht, was die Wahrheit war. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Waren ihre Erlebnisse mit Giuliano de Medici, mit Lorenzo und der Familie Pazzi nur Teile eines wirren Traumes? Sie wusste es nicht. »Ich war am Wochenende in Florenz. Beruflich. Ich arbeite an einem Artikel über das Calcio in Costume.«
»Ach ja, Sie sind Journalistin, nicht wahr?« Die Ärztin lächelte , ohne dass das Lächeln ihre Augen erreichte. Sie war ohne Zweifel besorgt. Vielleicht dachte sie sogar an ein Verbrechen . »War diese Reise sehr anstrengend für Sie?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Anne. »Wenigstens nicht mehr, als bei solchen Aufträgen üblich. Natürlich hatten wir viele Termine , und bei der Hinreise hatte die Bahn erhebliche Verspätung wegen eines Streiks der Gleisarbeiter. Trotzdem lief alles reibungslos, und ich hatte sogar die Zeit und die Gelegenheit, alte Freunde zu treffen. Ich habe vor ein paar Jahren in Florenz gelebt, wissen Sie.«
Die Ärztin nickte. »Ich glaube, Sie haben es schon mal erwähnt .« Sie lächelte verständnisvoll. »Es kann passieren, dass körperlicher oder auch seelischer Stress bei empfindsamen Frauen zu einer besonders starken Blutung führt.«
Wenn Anne sich nicht so jämmerlich gefühlt hätte, hätte sie bestimmt laut gelacht. Sie und empfindsam! Sie war Journalistin . Sie war ehrgeizig. Kollegen sagten ihr nach, dass sie das Durchsetzungsvermögen
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