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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Sie hatte auf dem Weg sogar Nachbarn getroffen, die sie erkannt und gegrüßt hatte. Nur schemenhaft sah sie ihre Gesichter vor sich, während ihre Gedanken immer wieder um dieselbe Frage kreisten . Wenn ihre Ärztin Recht hatte, war sie wirklich schwanger gewesen? Aber wenn ihre Ärztin Recht hatte, hatte sie wirklich alles erlebt? Ihre Beziehung zu Giuliano de Medici, die Enthüllung von Botticellis Geburt der Venus im Landhaus der Medici. Der rätselhafte Tod von Giovanna de Pazzi. Giacomo . Der Mord an Giuliano. Das geheimnisvolle Elixier der Ewigkeit, von dem Giacomo ihr erzählt hatte. Und natürlich Cosimo. Cosimo de Medici, der genauso aussah wie jener Cosimo Mecidea, der sie in Florenz zu seinem Kostümfest eingeladen und sie mehr oder weniger gezwungen hatte, eine blutrote Flüssigkeit zu trinken.
    Am nächsten Tag saß Anne an ihrem Schreibtisch. Eigentlich hatte sie arbeiten wollen. In der Redaktion war man es gewohnt , dass sie ihre Aufgaben prompt erledigte. Dort wartete man bestimmt schon auf den Artikel, den sie über das Calcio in Costume verfassen sollte. Doch es lief nicht wie sonst. Anne seufzte.
    Vor ihr stand das aufgeklappte Laptop, daneben waren ihre Unterlagen ausgebreitet – ein ganzer Stapel handschriftlicher Notizen, vier Papierservietten, die mit Thorstens schwer leserlicher Handschrift bekritzelt waren, ein paar ausgedruckte Artikel aus dem Internet, zwei Reiseführer von Florenz. Sie hatte sich nach dem Frühstück mit der Absicht an den Schreibtisch gesetzt, ihren Artikel fertig zu schreiben. Sie wollte diese Angelegenheit hinter sich haben. Sie wollte sich ausruhen, sich schonen , so wie die Ärztin es ihr empfohlen hatte. Vor allem aber wollte sie den Kopf endlich frei haben und sich auf die Fragen und Probleme konzentrieren, die durch die Ereignisse in Florenz aufgeworfen worden waren. Doch stattdessen saß sie zurückgelehnt auf ihrem Stuhl, starrte aus dem Fenster und konnte sich weder auf das eine noch auf das andere konzentrieren . Mittlerweile war es ein Uhr. Vier Stunden hatte sie bereits vergeudet. Allein der Gedanke daran hätte sie normalerweise schon halb verrückt gemacht. Aber nicht heute. Seit Florenz war alles irgendwie anders. Ihre Welt hatte sich verändert.
    Florenz. Es war jetzt zwei Tage her, seit sie dort gewesen war. Zwei Tage. Doch ihr kam es so vor, als wäre sie immer noch nicht zu Hause angekommen, als wäre ein Teil von ihr in Florenz geblieben. Florenz.
    Der Cursor auf dem Bildschirm blinkte ungeduldig in Erwartung ihrer Texteingabe. Anne startete einen weiteren ihrer mittlerweile zahllosen halbherzigen Versuche zu arbeiten, doch in der Mitte der Textzeile ließ sie ihre Hände sinken und sah wieder aus dem Fenster. Es war nicht einmal ein großer Artikel, der von ihr verlangt wurde – drei Doppelseiten im Magazin, das bedeutete maximal vierzig Textzeilen, da auch noch genügend Platz für die Fotos bleiben musste, die sie und Thorsten vom Markt und dem Calcio gemacht hatten. Eine Routinearbeit, die sie normalerweise innerhalb einer Stunde zwischen der Mittagspause und der Redaktionskonferenz erledigt hätte. Und doch konnte sie sich nicht zusammenreißen und endlich damit anfangen. Es war ganz und gar gegen ihre Gewohnheit. Wie so vieles in den vergangenen Tagen. Seit sie am Sonntagmorgen in dem kleinen Seitenzimmer neben dem Ballsaal im Palazzo Davanzati aufgewacht war, war sie nicht mehr sie selbst.
    Dabei war noch am Samstagabend ihr Kopf voller Ideen für den Artikel gewesen. Giancarlo, ein guter Freund und Mitglied der florentinischen High Society, hatte ihr von diesem ungewöhnlichen Kostümball erzählt. Und was er über dieses Fest und seinen Gastgeber Cosimo Mecidea zu berichten wusste, hatte interessant geklungen. Mehr als interessant, es hatte etwas von einem Filmstoff. Ein geheimnisvoller steinreicher Mann, ein Fest, zu dem nur ausgewählte Gäste eingeladen wurden und dessen Veranstaltungsort ebenso geheim gehalten wurde wie alles, was dort geschah. Die Öffentlichkeit erfuhr höchstens ein paar Tage später, dass das Fest am Samstag vor dem Calcio stattgefunden hatte. Das war der Stoff, den die Leserinnen wollten. Anne hatte Giancarlo förmlich auf Knien angefleht, ihr eine Einladung zu besorgen. Und er hatte es tatsächlich geschafft. Sie hatte eine der wenigen in ganz Italien heißbegehrten persönlichen Einladungen von Cosimo Mecidea erhalten. Weshalb ausgerechnet sie, eine deutsche Journalistin , die für ein in Italien weitgehend

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