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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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und die Konstitution einer Dampfwalze hatte, dass sie immer genau wusste, was sie wollte und wann sie es wollte – und dass sie es auch prompt bekam. Volontäre zitterten sogar zuweilen vor ihr, weil sie weder Fehler noch Schlamperei duldete. Man konnte vieles über sie erzählen , aber als empfindsam hatte sie bestimmt noch niemand bezeichnet . Und trotzdem hatte diese Geschichte sie so aus der Bahn geworfen, dass sie gestern noch nicht einmal in der Lage gewesen war, das Calcio zu sehen. Thorsten, der Fotograf, hatte für sie einspringen und sich Notizen für ihren Artikel machen müssen.
    »Ich werde Sie zuerst untersuchen und einen Abstrich machen. Manchmal können Blutungen auch durch Infektionen ausgelöst werden. Gehen Sie bitte in das Nebenzimmer.«
    Anne zog sich hinter einem Vorhang aus und kletterte mühsam auf den Untersuchungsstuhl. Sie fühlte sich müde und wund, so als hätte sie die Strecke von Florenz nach Hamburg zu Fuß zurückgelegt.
    Gewöhnlich unterhielt sich die Ärztin mit ihr, wenn sie auf dem Untersuchungsstuhl lag. Doch heute sprach sie während der Untersuchung kein einziges Wort, und Anne wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Sie lag mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl und wagte nicht, Fragen zu stellen. Um sich ein wenig zu beruhigen und abzulenken, zählte sie ihre Herzschläge , aber es half nicht. Und als sie hörte, wie die Ärztin ihre Instrumente in eine Schale mit Desinfektionsmittel warf, war ihr vor Angst übel.
    »Ziehen Sie sich bitte wieder an«, sagte die Ärztin und wusch sich im Waschbecken die Hände. Als Anne hinter dem Vorhang hervorkam, saß die Ärztin wieder auf ihrem Drehstuhl und deutete auf eine Liege. »Bitte, setzen Sie sich, Frau Niemeyer.« Sie holte tief Luft, schüttelte den Kopf und sah Anne mit gerunzelter Stirn an. Anne begann zu zittern. Was war los? »Es tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht sagen, weshalb Sie die starken Blutungen haben«, meinte die Ärztin. »Der Befund ist mir rätselhaft. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass Sie bis gestern mindestens im achten Monat schwanger gewesen sind. Aber …«
    »Schwanger?«, fragte Anne, und für einen Augenblick meinte sie, dass ihr Herz gleich stehen bleiben würde. »Wieso glauben Sie, dass ich schwanger bin … oder war?«
    »Tja, ihre Gebärmutter ist stark vergrößert und sehr weich, so als wäre sie über lange Zeit stark gedehnt worden – eben wie während der Schwangerschaft. Der Geburtskanal ist erweitert , als hätte sich ein kindlicher Kopf hindurchgeschoben, und Sie haben einen Dammriss. Es ist nur ein kleiner Riss, man muss ihn nicht einmal nähen, er wird von selbst heilen, aber er ist da. Auch die starken Blutungen würden hervorragend ins Bild passen. Doch alle Spekulationen helfen nicht, denn als ich Sie das letzte Mal vor vier Wochen untersucht habe, waren Sie bestimmt nicht schwanger. Und schon gar nicht im siebten Monat.« Die Ärztin schüttelte wieder den Kopf und strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht. »Ich kann es mir wirklich nicht erklären. So etwas ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht untergekommen.«
    Anne sagte nichts. Es gab zu viel, worüber sie jetzt nachdenken musste.
    »Wenn Sie es gestatten, Frau Niemeyer, werde ich mich mit einer Kollegin beraten, die an der Universitätsklinik in Essen arbeitet. Vielleicht hat sie eine Idee.« Anne nickte. »Gut. Außerdem werde ich Sie bis zum Ende der nächsten Woche krank schreiben. Sie sollten sich unbedingt schonen und sich beobachten . Wenn Sie Schmerzen oder Fieber bekommen, zögern Sie nicht, in das nächste Krankenhaus zu fahren. Und wenn Sie Fragen haben, kommen Sie vorbei. Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald ich mehr weiß.«
    Anne erhob sich. »Danke«, sagte sie und reichte der Ärztin die Hand. Sie tat es mechanisch, wie einstudiert, während die Gedanken in ihrem Kopf Kettenkarussell fuhren.
    »Sollen wir Ihnen ein Taxi rufen, Frau Niemeyer?«
    »Nein … ich …«, Anne brach ab. »Vielen Dank, aber ich habe es nicht weit. Ein kurzer Spaziergang wird mir gut tun.«
    Als Anne eine Viertelstunde später in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa saß, konnte sie sich kaum daran erinnern, wie sie den Weg von der Praxis bis zu ihrer Wohnung zurückgelegt hatte. Zu sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen . Und dennoch hatte sie es geschafft, an der Anmeldung der Ärztin ihre Krankschreibung abzuholen, zwei Straßen zu überqueren und ihre Wohnungstür aufzuschließen.

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