Die Wächter von Jerusalem
Anselmo. Ehrbare Familien sind verschwunden. Viele der Palazzi, in denen ich dereinst zu Besuch war, sind schon vor langer Zeit abgerissen oder so umgebaut worden, dass man sie kaum noch wiedererkennt. Ganze Straßenzüge haben sich verändert. Die Stadt ist gewachsen. Wo früher die Hütten der Weber standen , fahren jetzt Züge in den Bahnhof ein. Und wo einst unsere Rinder weideten, erheben sich heutzutage Hochhäuser.«
Anselmo zuckte mit den Schultern. »Na und? Die Welt muss sich schließlich ändern, sich weiterentwickeln. Um vieles , was wir noch gekannt haben, ist es noch nicht einmal schade. Und manches ist auch gleich geblieben«, sagte er und lächelte. »Da ist zum Beispiel der Dom. Die anderen Kirchen. Die alte Brücke. Selbst viele der alten Häuser stehen noch. Denk doch nur an den Palazzo Medici-Riccardi. Er ist …«
»Mittlerweile ein Museum«, unterbrach ihn Cosimo. »Und an den anderen Häusern und Kirchen, von denen du gesprochen hast, wird ständig gebaut. Sie müssen von Bauingenieuren und Restauratoren gehegt und gepflegt werden, damit sie nicht verfallen.« Er seufzte. »Manchmal fühle ich mich wie sie. Zwar ist die Fassade frisch gestrichen, doch innen drin, der Kern, das Herz, ist alt und morsch, von Schimmel und Holzwürmern zerfressen, beklagenswerte Residuen einer längst vergessenen Epoche.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Anselmo, der Mensch ist wahrlich nicht für die Ewigkeit geschaffen.«
Anselmo holte tief Luft und schwieg. Darin war er mit Cosimo einer Meinung. Der Mensch war nicht für die Ewigkeit bestimmt. Doch es hatte keinen Zweck, sich deswegen selbst zu zerfleischen. Sie hatten keine andere Wahl, als die Ewigkeit zu akzeptieren – wenigstens jetzt noch nicht.
Nachdenklich drehte Cosimo die Teeschale in seiner Hand und fuhr mit dem Zeigefinger über die kunstvolle Glasur.
»Dieses Service gehörte einer meiner Nichten. Vielleicht erinnerst du dich noch an sie, Anselmo.« Anselmo nickte. Und ob er sich daran erinnerte. »Ich weiß noch genau, wie es war, als sie das Service geschenkt bekommen hatte. Es war ihr fünfzigster Geburtstag. Ich sehe noch ihre vor maßlosem Entzücken aufgeworfenen Lippen, die vor Freude strahlenden Augen vor mir. Wie hat sie dieses Service geliebt. Sie hat so an ihm gehangen, dass sie sogar auf dem Sterbebett ihre Zofe darum gebeten hatte, es doch auf einem Tablett neben sie zu stellen, damit sie es wenigstens noch ein letztes Mal sehen könne. Wie alt war sie noch bei ihrem Tod gewesen? Dreiundachtzig? Oder fünfundachtzig?«
»Sechsundachtzig«, sagte Anselmo. »Eure Nichte Francesca di Sgubbio wurde sechsundachtzig.«
Cosimo trank einen Schluck und schüttelte betrübt den Kopf.
»Ich habe es vergessen, Anselmo. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich mich noch nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern .«
»Das ist wahrlich kein Wunder, Cosimo. Es ist lange her.«
»Aber das ist nicht der einzige Grund, Anselmo. Ich habe im Laufe der Jahre so viele Nichten, Großnichten und Urgroßnichten aufwachsen und sterben sehen, dass ich sie kaum noch voneinander unterscheiden kann. Mit der Zeit wurden es immer weniger. Und am Ende bin nur noch ich übrig geblieben. Ich, der Letzte der einst so glorreichen Medici. Einigen Mitgliedern meiner Familie haben wenigstens die Historiker ein paar Zeilen gewidmet. Die meisten jedoch – wie auch Francesca – sind nichts als Staub. Und eine Hand voll löchriger Erinnerungen im Gehirn eines Verdammten, der eigentlich schon längst nichts mehr auf dieser Welt verloren hat.«
»Cosimo, das ist …«
Doch Cosimo winkte ab und begann die Teeschale zu streicheln. Er liebkoste das Porzellan wie ein lebendiges Wesen , und sein Gesicht sah aus, als ob ihm diese Berührungen Schmerz zufügen würden.
»Es sind einfach zu viele gewesen, Anselmo. Zu viele Menschen , die ich im Laufe der Jahre hinter mir gelassen habe.« Er seufzte. »Zu ihren Lebzeiten habe ich die meisten von ihnen nicht einmal besonders geschätzt. Doch soll ich dir etwas Seltsames verraten? Mit jedem Tag, der seit ihrem Ableben verstrichen ist, vermisse ich sie mehr. Ja, ich vermisse ihre anödende Gesellschaft. Ich vermisse sogar ihre Engstirnigkeit , ihre Dummheit, ihre langweiligen Gespräche, die sich stets nur um das Geld und seine effiziente Vermehrung gedreht haben. Jetzt sind sie fort. Sie alle sind zu Staub zerfallen . Und eigentlich gehöre ich zu ihnen, Anselmo. Ich gehöre dahin, wo sie jetzt sind. Wir beide gehören
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