Die Wächter von Jerusalem
geschehen. Aber was? Und da war noch Cosimo Mecidea. Er hatte sie gekannt. Woher? In ihrem Traum hatte sie ihn getroffen – er war ihr als Cousin von Giuliano und Lorenzo de Medici vorgestellt worden. Aber hatte er tatsächlich seit 1477 darauf gewartet, ihr zu begegnen? Das würde bedeuten, dass Mecidea etwa fünfhundertfünfzig Jahre alt sein musste. Und das war doch wohl unmöglich. Oder? …
Die Fragen schwirrten nur so durch Annes Kopf. Jedes Mal, wenn sie glaubte eine Antwort gefunden zu haben, eine Antwort , die sich mit ihrem Schulwissen über Chemie, Biologie, Physik und Mathematik deckte, tauchten neue Fragen auf, und sie stand wieder am Anfang. Wurde sie vielleicht verrückt ? War sie psychisch krank?
Anne erhob sich und ging unruhig auf und ab. Es bestand kein Zweifel mehr, sie brauchte Hilfe. Doch es gab niemanden , an den sie sich wenden konnte. Im Internet, normalerweise ein unerschöpflicher Quell des Wissens, stand nichts, das ihr weiterzuhelfen vermochte, weder über ein »Elixier der Ewigkeit«, wie Mecidea diesen Trank genannt hatte, noch über Zeitreisen. Auch Mecideas Nummer oder Adresse war unauffindbar. Sollte sie noch mal Giancarlo anrufen? Vielleicht wusste er mehr. Sie hatte erst gestern mit ihm telefoniert und zu ihrer Freude erfahren, dass sie sich wenigstens das Kostümfest nicht eingebildet hatte. Dabei hatte er auch von der beschwingten Stimmung gesprochen, die Mecideas Trank verursacht hatte. Von seltsamen Auswirkungen wie starken Halluzinationen hatte er nichts gesagt. Sollte sie ihn jetzt fragen, ob er nach dem Genuss dieses Trankes schon mal eine Zeitreise gemacht habe? Er würde sie bestimmt auslachen . Oder ihr den Besuch bei einem Psychiater empfehlen. Und Cosimo Mecideas Telefonnummer kannte er ebenso wenig wie sie selbst, das hatte er ihr schon gestern gesagt. Also verwarf sie den Gedanken wieder.
Anne setzte sich erneut, beugte sich über den Schreibtisch und schob die zerknitterten Zettel hin und her. Sie stanken geradezu widerlich nach Nikotin.
Noch ein Hinweis, dachte sie und rümpfte angeekelt die Nase. Seit Sonntag früh rauchte sie nicht mehr. Ganz plötzlich, von jetzt auf gleich hatte sie damit aufgehört, ohne dass sie es sich jemals vorgenommen hätte. Dabei rauchte sie bereits seit ihrem sechzehnten Lebensjahr. Seltsam.
Während sie versuchte die Notizen zu ordnen, ging Anne in Gedanken alle Männer und Frauen in ihrer näheren Umgebung durch. Wer von ihnen konnte ihr helfen? Wen konnte sie fragen? Wem konnte sie die ganze seltsame Geschichte erzählen , ohne dabei zu riskieren, ausgelacht zu werden oder eine Empfehlung zur Einweisung in die Psychiatrie zu bekommen?
Da tauchte irgendwo aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins ein Name auf – Beatrice. Und augenblicklich wusste Anne, dass sie die richtige Person war. Beatrice war ihre Cousine , sie war Ärztin, und sie las mit Begeisterung Fantasyromane . Also stand sie ungewöhnlichen Ideen nicht ganz und gar skeptisch gegenüber. Anne erhob sich von ihrem Stuhl. Langsam. Irgendwie tat ihr immer noch alles weh, als wäre sie verprügelt worden. Sie ging zum Telefon und suchte die Nummer im Telefonregister. Sie und Beatrice hatten nicht besonders oft Kontakt miteinander. Natürlich trafen sie sich zu den üblichen Gelegenheiten – runde Geburtstage in der Familie, Hochzeiten, Beerdigungen … Zu ihrer Schande musste Anne sich sogar eingestehen, dass sie meistens vergaß, Beatrice zum Geburtstag zu gratulieren. Deshalb war sie auch nicht beleidigt , als sie deutlich die Überraschung in der Stimme ihrer Cousine hörte, nachdem sie sich gemeldet hatte.
»Anne, hallo, wie geht es dir?«
»Nun, darüber würde ich gern mit dir sprechen, Bea. Bist du zu Hause? Könnte ich vorbeikommen?«
»Ja, klar. Wann denn?«
»Jetzt gleich.« Anne merkte, dass Beatrice zögerte. Natürlich . Sie hatte nicht damit rechnen können, dass Beatrice ausgerechnet heute unter Langeweile leiden würde und nichts Besseres zu tun hatte, als sich mit ihr zu treffen. »Wenn du aber etwas vorhast, dann …«
»Nein, ich bin zu Hause. Thomas und Michelle sind im Kino. Wenn du möchtest, kannst du also gern vorbeikommen. Allerdings fürchte ich, dass ich dir abgesehen von ein paar Keksen und Tee nichts anbieten kann.«
»Das ist schon in Ordnung«, erwiderte Anne rasch und schickte ein Dankgebet zum Himmel. »Ich bin dann gleich bei dir.«
Kaum eine halbe Stunde später stieg Anne vor dem Haus ihrer Cousine aus dem Taxi. Sie blieb
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