Die Wächter von Jerusalem
stehen und betrachtete es einen Augenblick. Es war ein Doppelhaus aus den zwanziger Jahren mit einer hellgrün verputzten, fast neoklassizistischen Fassade und hohen weißen Sprossenfenstern. Es sah anheimelnd aus und gleichzeitig stark, so als würde es die Familie , die darin wohnte, vor allem Übel beschützen. Ein schönes Haus, dachte Anne. Es hat etwas von einem Dornröschenschloss , auch wenn keine Rosen an der Fassade emporranken .
Mühsam schleppte sie sich die Stufen zur Haustür hinauf. Es dauerte eine Weile, bis auf ihr Klingeln hin die Tür geöffnet wurde.
»Hallo, Bea«, sagte Anne und zweifelte in diesem Augenblick ernsthaft an ihrem Verstand. Was wollte sie hier? Wollte sie wirklich Beatrice von ihren Erlebnissen erzählen? Wollte sie allen Ernstes ihre Cousine fragen, ob sie es für möglich hielt, dass man innerhalb von zwei Tagen schwanger werden und einen gesunden Jungen zur Welt bringen konnte? Oder wollte sie Beatrice vielleicht zwischen Tee und Keksen fragen, was sie von Zeitreisen hielt? Aber jetzt war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. »Tut mir Leid, dass ich dich so überfalle , aber …«
»Ach, Unsinn, komm herein.« Beatrice lächelte. »Dein Besuch ist ohnehin überfällig. Du kennst unser Haus ja noch gar nicht. Außerdem lieferst du mir einen ausgezeichneten Grund, mich nicht um die Bügelwäsche zu kümmern.«
Sie nahm Anne die Strickjacke ab, hängte sie an die Garderobe und führte sie ins Wohnzimmer. Noch bevor Anne sich genau im Raum umsehen konnte, wurde ihr Blick geradezu magisch von einem Gemälde angezogen, das über dem Sofa hing. Es war ein ungerahmtes Triptychon. Auf einem dunklen Hintergrund in Schwarz und Blau leuchtete, verteilt auf drei schmale, hohe Leinwände, ein orangefarbener Bogen, wie zwei miteinander verschlungene Bänder, die entfernt an einen Fisch erinnerten. Oder an einen breiten Strom aus Lava.
»Von wem ist das Bild?«, fragte Anne und spürte diesen kleinen schmerzhaften Stich, den sie immer dann empfand, wenn irgendjemand ein Gemälde besaß, das sie sich ausgezeichnet an ihrer eigenen Wand vorstellen konnte. Es war purer Neid. »Es ist beeindruckend.«
»Ja, das finden wir auch«, sagte Beatrice. »Es stammt von der Hamburger Künstlerin Heidi Henning.«
Anne schüttelte den Kopf. Dieser Name sagte ihr gar nichts, aber das würde sich schon bald ändern. Wozu gab es schließlich Internet.
»Hat es einen Titel?«
»Ja, es heißt Verwicklungen des Lebens .«
Wie passend, dachte Anne und stellte fest, dass sie für einen kurzen Augenblick tatsächlich vergessen hatte, weshalb sie überhaupt hier war. Doch jetzt drängten alle Fragen und Ängste wieder mit Macht in den Vordergrund. Und sie waren stärker als je zuvor. Ihr Herz begann zu rasen, ihre Hände wurden feucht. Verwicklungen des Lebens – wie überaus passend. Eigentlich sollte das Gemälde wohl eher ihr gehören .
»Setz dich doch«, forderte Beatrice sie freundlich auf. »Trinkst du auch einen Tee?«
»Ja, gern«, erwiderte Anne und nahm auf dem Sofa Platz. Sie sah zu, wie ihre Cousine Tassen aus dem Schrank holte und Kekse auf einen Teller schüttete. Sie kam ihr rundlicher und schwerfälliger vor, als sie sie in Erinnerung hatte. » Entschuldige die Frage, Bea, hast du zugenommen?«
»Ja«, antwortete Beatrice und kam dann mit einer dampfenden Teekanne aus der Küche. »Aber in der Schwangerschaft ist das durchaus normal.«
»Du bist wieder schwanger?«
»Ja, im sechsten Monat.«
»Das wusste ich nicht.«
»Woher auch, wir sprechen uns ja nicht besonders häufig.«
Die Worte klangen beiläufig, und doch war ein gewisser Vorwurf nicht zu überhören. Beatrice hatte ja Recht. Was hatte sie hier eigentlich zu suchen? Und warum musste Beatrice ausgerechnet jetzt schwanger sein? Jetzt, da sie selbst … Anne biss sich auf die Lippe. Sie war den Tränen nahe.
Beatrice setzte sich in den Sessel und schenkte den Tee ein. Dann nahm sie ihre Tasse, lehnte sich zurück und betrachtete Anne einen Augenblick forschend.
»Na, was ist mit dir?«, fragte sie schließlich, und Anne spürte, wie sie unter dem Blick ihrer Cousine errötete. Beatrice war Chirurgin, und sie war es gewöhnt, keine Zeit zu vertrödeln . »Ich freue mich natürlich riesig über deinen Besuch, Anne«, fuhr sie fort, »allerdings kommt er ein wenig überraschend . Und wenn ich ehrlich bin, klang es am Telefon, als ob es da einen echten Notfall gibt. Andererseits sind wir nicht die besten Freundinnen. Mit
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