Die Waechter von Marstrand
Bauch und ihr Unterleib taten weh, wenn sie an die beiden Kinder dachte, die sie gehabt hatte. Sie gehörten ihr noch immer. Sie waren in ihrem Leib gewachsen und von ihr auf die Welt gebracht worden.
Agnes Carolina, geboren am 23. August 1834. Sie wollte ein Kreuz zeichnen und noch ein Datum eintragen, aber die Hand schien ihr nicht mehr zu gehorchen. Stattdessen schrieb sie wieder den Namen des Kindes. Immer und immer wieder. Acht Monate waren ihr mit dem Mädchen vergönnt gewesen. Sie hatte ihr Lächeln und die weiche Haut genossen. Die Zähnchen waren gekommen, und die Kleine hatte eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Eines Abends kam das Fieber. Die Kleine lag mit mattem Blick und viel zu heißer Stirn da. Mutter sagte, Kinder bekämen manchmal Fieber, auch hohes, das sei bei Lovisa früher genauso gewesen. Am vierten Tag begann jedoch auch Mutter, sich Sorgen zu machen. Lovisa sah, dass sie aus dem Zimmer ging und heimlich weinte, wenn sie glaubte, es hätte niemand bemerkt. Um sieben Uhr abends hörte die Kleine auf zu atmen. Es war anders als vor ihrem erstem Wutschrei, als sie gerade auf die Welt gekommen war. Nun war sie vollkommen still. Ein Seufzer, und dann war Schluss. Lovisa, die das Mädchen in seine Wiege gelegt hatte, damit es von ihrer Körperwärme nicht noch mehr erhitzt wurde, nahm es jetzt auf den Arm. Das Köpfchen fiel zur Seite.
»Mutter!«, schrie sie. Agnes raste ins Zimmer.
»Mutter … hilf mir, Mutter! Hilf mir.«
Agnes sah den leblosen Körper in den Armen ihrer Tochter.
»Nein«, flüsterte sie. »Guter Jesus, nimm sie nicht fort von uns.«
»Carolina? Carolina?« Lovisa klopfte ihr auf den Popo, wie sie es nach dem Stillen tat, wenn sie ihr Bäuerchen machen sollte. Aber das Kind war still, alles war still. Nur die Uhr im Hauseingang, die zur vollen Stunde schlug, war zu hören.
Vater wurde geholt, aber man konnte nichts mehr tun. Stumme Tränen rollten seine Wangen hinunter, als siedie Kleine in die Wiege legten. Lovisa konnte es nicht verstehen. Sie legte Carolina wie jeden Abend ins Bett. Als Agnes am nächsten Morgen zu ihr ins Zimmer kam, hatte sie die Kleine bei sich im Bett und versuchte, den erkalteten Körper zu wärmen. Behutsam befreiten Agnes und Oskar das Mädchen aus der Umklammerung.
Lovisa erschauerte bei der Erinnerung daran und hob eine Weile den Stift. Sie ließ ihren Blick eine Zeile höher wandern und strich den Namen durch. Auch dort stand Agnes Carolina, geboren und gestorben am selben Tag, dem 20. November 1831. Ein Mädchen, das viele Monate in ihrem Bauch gelebt und gestrampelt hatte, aber als es auf die Welt kam, war es blau und leblos. Die Nabelschnur hatte sich zweimal um den kleinen Hals gewickelt. Damals dachte Lovisa, schlimmer könne es nicht kommen, aber ein Kind zu verlieren, dass sie gestillt und kennengelernt hatte, war noch schwerer. Einen acht Monate alten Säugling zu verlieren, der sie angestrahlt hatte und dessen Lachen sie nie vergessen würde.
Es erschien ihr nicht richtig, dass so kleine Särge getischlert wurden, damit man kleine Kinder hineinlegte und den Deckel zumachte. Dass so etwas einmal passierte, begriff Lovisa, aber zweimal war mehr, als ihr Herz ertragen konnte. Wieder hob sie die Feder und tauchte sie ins Tintenfass. Immer wieder schrieb sie den Namen des Mädchens in die Bibel, bis die Seite voll war und ihre Schrift sich so weit zur Seite neigte, als wollte sie sich in einen Abgrund stürzen.
»Bist du hier, mein geliebtes Kind?« Agnes legte ihr ein Tuch um die Schultern und nahm ihr die Schreibfeder aus der Hand. »Komm, meine Liebe.«
Lovisa ließ sich in die Küche führen. Agnes setzte sie vor einen Teller heißer Hagebuttensuppe. Sie blickte in den tiefen Teller, ohne das Essen anzurühren. Agnes fülltedie Suppe in einen Becher um, hielt ihn ihr an die Lippen und zwang sie, etwas zu trinken. Es erinnerte sie an die Zeit, in der sie selbst krank im Bett gelegen und Oskar sich um sie gekümmert hatte.
Zwei Wochen lang sagte Lovisa kein einziges Wort. Als ihr Mann vom Fischen zurückkehrte, hieß ihn nicht Lovisa, sondern Agnes mit leeren Händen am Anleger willkommen. Nicht genug damit, dass er noch eine Tochter verloren hatte. Um ein Haar hätte er auch seine Frau verloren.
Agnes zog das Gartentor hinter sich zu und wollte sich eigentlich mit einem Korb voller Lebensmittel auf den Weg zu Lovisa machen, als sie eine Gestalt auf den Klippen erblickte. Wenig später erkannte Agnes, dass es eine Frau in
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