Die Waechter von Marstrand
viel zu großer Männerkleidung war. Ihre langen weißblonden Haare flatterten genau wie die weiten Hosenbeine im Wind. Sie ging auf und ab. Als ein Windstoß ihre Stimme herübertrug, hörte Agnes sie klagen. Die Sprache war ihr vertraut. Es war Holländisch. Die Frau drehte sich um und suchte einen geeigneten Abstieg. Unsicher und ungeschickt kletterte sie die Klippen an einer besonders gefährlichen Stelle hinunter. Ganz offensichtlich war sie das nicht gewöhnt, und es war zweifelhaft, ob das Waldgeißblatt, das einen Teil des Berges bedeckte, ihr Gewicht halten würde, wenn sie sich daran festhielt. Agnes ging ihr entgegen. Wie mochte eine Holländerin auf dieser Insel gelandet sein? War sie vielleicht zu Besuch? Vielleicht war sie frisch verheiratet mit einem Inselbewohner, aber davon hätte sie vermutlich gehört. Oder sie hatte ganz einfach ihren Mann begleitet, der unter holländischer Flagge Waren nach Schweden transportierte. Die Kleidung musste sie sich jedoch ausgeliehen haben. Möglicherweise war sie eine Schiffbrüchige, die gerettet worden war. Die Frau war in Lovisas Alter.Sie sah sich wachsam um, bevor sie vorsichtig auf Agnes zuging.
» Goeden morgen «, sagte Agnes.
Die Frau hatte Tränen in den Augen. Sie hatte feine Gesichtszüge und machte einen freundlichen Eindruck.
» Spreekt U mijn taal mevrouw ?« Sprechen Sie meine Sprache, gnädige Frau?
» Mijn Oma was van Holland .« Agnes lächelte die Frau an. »Inzwischen habe ich jedoch nur noch selten die Möglichkeit, die Sprache zu sprechen.«
Die Frau war mager und schielte nun zu dem Korb in Agnes’ Hand. Agnes hob die Decke und fragte, ob sie ihr etwas anbieten dürfe.
Da die Frau keine Anstalten machte, sich zu bedienen, reichte sie ihr einen noch warmen Laib Brot.
»Bitte sehr.«
Die Frau nahm das Brot an und biss davon ab.
»Mein Name ist Agnes. Mein Mann und ich wohnen auf dem Nordgård.«
»Aleida Maria van der Windt. Aleida.«
»Was machen Sie hier?«, fragte Agnes. Sie wünschte, sie hätte etwas zu trinken dabei gehabt.
Die Frau schluckte.
»Rotes Garn und Stoff. Wir sind mit einer vollen Ladung gekommen. Aber nun sind alle tot. Ermordet.« Sie verstummte.
» Dood ?« Agnes erschrak. Wer war tot?
»Vor Marstrandsö haben sie uns eingeholt. Hendrik, mein Mann, konnte sie nur noch fragen, was sie von uns wollten. Dann griffen sie an. Ich war im Innern des Schiffs, als sie ihre Äxte in die Seite hieben und an Bord kamen. Sie sagten kein Wort. Ich hörte nur die Schreie von unserer Besatzung. Die Männer riefen auf Holländisch um Hilfe und flehten um Gnade, aber es wurde keine Gnade gewährt. Das Deck färbte sich rot von Blut,das durch die Ritzen sickerte und bis zu mir tropfte. Ich hatte mich zwischen den Stoffballen versteckt. Die ganze Besatzung. Mein Mann. Sieben Personen. Mich haben sie mit hierhergenommen. In das große gelbe Haus.«
Ein großes gelbes Haus? Davon gab es nur eins auf der Insel, und das war der Bremsegård, wo Johannes Andersson mit seiner Familie lebte. Der größte Hof in der ganzen Gegend. Agnes bekam weiche Knie. Wohnte die Frau auf diesem Hof? Sie dachte an Johannes’ wachsame Frau mit den dunklen Augen. Nie im Leben würde sie eine Fremde in ihr Haus lassen.
Agnes wollte sie gerade fragen, ob sie wirklich auf dem Bremsegård wohnte, als die Frau weitermurmelte.
» Garens en stoffen, wij kwamen met een volle last, maar nu zijn allen dood, vermoord .«
»Wohnen Sie auf dem Hof?«, fragte Agnes.
»Eingesperrt vom Hausherrn. Er kommt zu mir, wenn ihm danach ist. Ich muss hier weg, vielleicht …«
Aus einiger Entfernung ertönten Rufe. Die Frau zuckte zusammen und drehte sich um. Ohne ein Wort rannte sie davon und war kurz darauf im Wald verschwunden.
Agnes legte die Decke wieder über den Korb und setzte ihren Weg fort. Sie spürte ihr Herz klopfen und konnte sich nur allzu gut vorstellen, wer die Seeräuber gewesen waren.
»Sieh mal an. Frau Ahlgren.« Plötzlich stand Daniel Jacobsson vor ihr. Mit Leichtigkeit öffnete er das schwere Viehgatter.
»Guten Tag, Herr Jacobsson.« Agnes nickte kurz. Nun hielt sie den Korb mit beiden Händen umklammert, damit er nicht sah, wie sie zitterte. Kürzlich hatte er viel Geld an die Kirche in Lycke gespendet und wurde nun oft »Vater Daniel« genannt. In den Augen der Menschen, die nicht wussten, wie er zu seinem Vermögen gekommenwar, stand er vielleicht als ein Mann der Kirche und treuer Diener Gottes da.
Während sie selbst graue Haare
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