Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms

wollte.
    »Ich weiß nicht mehr viel, Harry«, sagte er, »aber das weiß ich.«

Fünfter Teil

20.
    Nur unserer Erinnerung verdanken wir, dass manche Leute jemals existiert haben. Unsere Erinnerung gibt ihnen ihre Bedeutung, manchmal sogar zu viel Bedeutung. Heute spricht keiner mehr von der alten Miss Maggie. Ich weiß nicht, ob irgendjemand außer mir sich an sie erinnert. Der sich daran erinnert, wie sie kochte – manchmal, wenn ich besonders stark an sie denke, habe ich den Geschmack ihres Essens wieder auf der Zunge; der sich an ihre Geschichten erinnert, ihre merkwürdigen und wundervollen Geschichten, die sie ohne den leisesten Zweifel an ihrer Wahrheit erzählte.
    Aber vielleicht ist das auch reiner Hochmut. Irgendwo hat sie Familie, vielleicht leben ihre Verwandten noch, sie müssen so alt wie ich sein, vielleicht noch älter.
    Sie könnten sich an sie erinnern.
    Aber an meine Erinnerungen können sie sich nicht erinnern.
    Maggie.
    Lange fort.
    Ermordet.
    Und die Jahreszeiten wechseln, als wäre nie etwas geschehen.
    *
    Wir gingen zurück zu Cecil, um dort das Auto abzuholen, Daddy und er sagten nicht viel, dann ritt ich auf Sally zurück nach Hause, Daddy fuhr langsam neben mir her.
    Den ganzen Weg lang dachte ich an Miss Maggie, und dass sie beim letzten Mal, als ich sie gesehen hatte, so verstört gewesen war. Ich weinte die ganze Zeit, ich weinte alles heraus, damit ich zu Hause vor den anderen nicht mehr weinen würde.
    Zu Hause setzte sich Daddy an den Tisch und trank einen Kaffee, Mama setzte sich neben ihn, und er dachte über den Mord an Miss Maggie nach.
    Ich erzählte ihm von dem Auto mit dem kaputten Rücklicht, das ich gesehen hatte, dasselbe, mit dem uns die Nachricht wegen Mose überbracht worden war. Ich erzählte ihm auch, wie es war, als Grandma und ich Miss Maggie zuletzt gesehen hatten, dass sie sich so aufgeregt hatte, als ich Red Woodrow erwähnte. Grandma erzählte ihm von den Gerüchten, die wir gehört hatten – dass Red Miss Maggies leiblicher Sohn sei.
    Daddy konnte es kaum glauben.
    »Er und ich waren mal wie Brüder«, sagte er. »Davon hätte ich doch gewusst.«
    »Na ja«, sagte Mama, »sie hat ihn aufgezogen – möglich ist es schon.«
    Daddy nickte. »Aber gerade deshalb … warum sollte er sie umbringen?«
    »Ich werd’ dir sagen, warum«, sagte Grandma. »Nach allem, was Harry mir erzählt hat, hat er für Farbige nicht viel übrig. Er hielt sich für weiß, er hielt sich für was Besseres – und dann hat’s Miss Maggie ihm gesagt. Aus welchem Grund auch immer. Sie hat’s ihm einfach gesagt. Und das konnte er nicht ertragen, also hat er sie ermordet.«
    »Wenn sie es ihm gesagt hat«, sagte Daddy, »und nehmen wir mal an, sie hat ihm auch gesagt, dass Mose sein Vater ist – wenn er es war, der uns wegen Mose gewarnt hat, der Mose schützen wollte, warum würde er dann Miss Maggie umbringen?«
    »Darüber hab ich auch schon nachgedacht«, sagte Grandma.
    »Und ich wette, du hast eine Meinung dazu«, sagte Daddy.
    »Nimm mal an, er hat dann durch seine Verbindung zum Klan gehört, dass Mose als Verdächtiger festgehalten wird und was die dem alten Mann antun wollen. Ich schätze, das war ihm eigentlich ganz recht – aber dann hat er herausgefunden, dass Mose sein Vater ist, und hat dir die Nachricht hinterlassen, um das Ganze zu stoppen. Aber das ging nicht mehr. Es könnte doch sein, dass Miss Maggie ihm das vorgehalten hat: dass er nicht dazwischengegangen ist, dass er zugesehen hat, wie man seinen Vater tötete, ohne etwas zu unternehmen oder dir zu helfen. Und dann hat er sie umgebracht, in seiner Wut.«
    »Klingt plausibel«, sagte Daddy.
    »Was du jetzt tun musst, Liebling«, sagte Mama, »ist, zu Red zu fahren und nachzusehen, ob er ein kaputtes Rücklicht hat.«
    Daddy nickte. Tom kletterte auf seinen Schoß und legte die Arme um seinen Hals. Er strich ihr sanft über den Rücken.
    *
    Am nächsten Tag ging Daddy los, um Red zu suchen – aber es stellte sich heraus, dass er nirgends zu finden war. Er war nicht bei der Arbeit gewesen, und die ganze Woche über hatte ihn niemand gesehen. Sein Auto war weg.
    Ein paar Tage später fand jemand, der im angrenzenden Bezirk fischen war, Reds Auto. Es war auf einem Pfad abgestellt worden, mitten im Wald. Der Pfad war eigentlich nicht breit genug für ein Auto, aber es sah aus, als habe es jemand schnell und ziemlich wüst hier hingefahren. Das Auto war auf allen Seiten zerkratzt von Büschen und Zweigen. Ein