Die Wälder von Albion
anderen Kinder bekommen hatte, war Julia in dem Bewußtsein aufgewachsen, die Alleinerbin ihres Vaters zu sein. Licinius hatte offen mit ihr darüber gesprochen, daß eine Heirat mit dem Sohn des alten Macellius Severus bereits verabredet sei. Sie hatte es von frühester Kindheit an für selbstverständlich gehalten, daß sie den Mann heiraten würde, den ihr Vater für sie auswählte. Zumindest bedeutete das, sie würde nicht irgendeinem Patrizier zur Frau gegeben, der doppelt so alt war wie sie - ein Schicksal, das den meisten ihrer Freundinnen nicht erspart geblieben war.
Ihr Vater erwartete sie lächelnd im inneren Atrium. »Er ist da, mein Liebes, der junge Gaius Macellius, dein zukünftiger Mann. Ich bin recht angetan von ihm, aber ich finde, du solltest zu ihm gehen und ihn dir ansehen. Schließlich sollst ja du ihn heiraten. Trotzdem meine ich, wenn dir dieser junge Mann nicht gefällt, dann wird es schwer sein, dich zufriedenzustellen.«
Julia machte große Augen. Sie schwieg und sagte dann: »Ich habe nicht damit gerechnet, daß es so bald sein würde.«
Aber sie wußte, es würde wenig Vorteile bringen, die Heirat länger hinauszuzögern. Sie wollte unbedingt bald Herrin im eigenen Haus sein und etwas haben, das nur ihr gehörte. Wenn sie dem jungen Offizier erst einen Sohn geboren hatte, würde sie ihm bestimmt das Teuerste auf der Welt sein.
Julia konnte bereits einen Haushalt führen, und sie wollte Kinder haben. Deshalb hatte sie die feste Absicht, nicht so zu versagen wie ihre Mutter. Sie wollte ihrem Mann mindestens einen Sohn schenken.
»Auch mich hat sein Kommen überrascht«, erwiderte ihr Vater und lächelte sie an. »Ich hätte mein kleines Mädchen nur allzu gern etwas länger für mich behalten. Jetzt muß ich vermutlich eine alte Witwe heiraten, die das Haus für mich in Ordnung hält.« Er schwieg und kniff die Augen zusammen. »Der junge Mann hat offenbar etwas mit einer britonischen Frau gehabt, und Macellius ist der Meinung, die Heirat werde ihn sehr schnell zur Vernunft bringen. Und so… «
Eine britonische Frau?
Julia hob die Augenbrauen. »Und so?«
»Und so ist der junge Mann hier eingetroffen, und es ist Zeit, daß ihr euch kennenlernt. Ich könnte mir denken, daß du ihn sehen möchtest, oder?«
»Ich gebe zu, ich bin neugierig.«
Was hatte ihr das Los in diesem seltsamen Glücksspiel beschert? Was für ein Mann war das? Ein Abenteuer konnte man ihm durchgehen lassen, aber wenn er der Typ war, der ständig etwas mit Frauen hatte, dann war sie nicht so sicher, ob sie ihn wirklich heiraten wollte.
»Na, dann geh zu ihm, mein Kind, und sag mir ehrlich, wie du ihn findest.« Licinius betrachtete Julia wohlgefällig und brummte dann: »Und wenn er etwas an dir auszusetzen hat, dann weiß ich nicht, was für eine Frau er haben möchte.«
Plötzlich stellte Julia mit Entsetzen fest, daß sie eine alte Tunika trug und ihre Haare nicht sehr ordentlich frisiert waren.
»So, wie ich aussehe?« fragte sie. Errötend richtete sie ihre Tunika, um den Fleck von einer Beere in einer Falte verschwinden zu lassen.
»Aber, aber«, lachte ihr Vater, »ich denke, er will dich sehen und nicht deine Kleider. Ich meine, du siehst wie immer bezaubernd aus. Er weiß, daß du meine Tochter bist, und schließlich kommt es darauf an. Nun lauf schon und zier dich nicht länger. Er wartet auf dich.«
Julia wußte, das war ein Befehl, dem sie sich nicht widersetzen konnte. Ihr Vater war immer gut zu ihr, aber wenn er sich etwas vorgenommen hatte, konnte sie ihn nicht davon abbringen. Da halfen weder Bitten noch Schmeicheleien. Julia war immer eine gehorsame Tochter gewesen, und wenn er etwas von ihr verlangte, dann mußte sie sich fügen und das Beste daraus machen.
Gaius hörte wieder das mädchenhafte Lachen, und er mußte irgendwie an Odysseus denken, den Nausicaa und ihre Frauen am Strand überrascht hatten. Er konnte die junge Frau nur sprachlos ansehen, die plötzlich hinter einem blühenden Baum auftauchte und sich ihm näherte.
Ein junge Frau? Sie ist ja noch ein Kind, dachte Gaius unwillkürlich. Auch er war nicht besonders groß, aber Julia reichte ihm kaum bis zur Schulter. Sie hatte ein schmales, hübsches Gesicht und dichte, dunkle Locken, die im Nacken von einer Spange zusammengehalten wurden. Wie er hatte sie dunkle Augen. Sie sah ihn furchtlos an.
Julia hatte offenbar Beeren gegessen. Gaius sah auf der dünnen weißen Wolltunika und ihren Lippen die deutlichen Spuren rosaroter
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