Die Wälder von Albion
scheu gewordenes Pferd durchgehen und galoppieren, bis es vor Schwäche zusammenbricht. Wer heilen will, muß ein gutes Urteilsvermögen haben.«
Eilan runzelte die Stirn. Daran hatte sie noch nie gedacht. Später fragte sie sich oft, was sie als Novizin in Vernemeton erwartet hatte. Vielleicht hoffte sie, Frieden zu finden oder Einblicke in die Mysterien und auch ein wenig angenehme Langeweile. Aber sie hätte sich nie vorstellen können, wie faszinierend es sein würde, mit anderen Frauen zusammen zu lernen.
Die Nächte waren nicht so unbeschwert, denn in den ersten Monaten träumte sie oft von Gaius. Manchmal sah sie ihn mit seinen Soldaten über Land reiten oder beim Exerzieren mit dem Schwert. Sie hörte ihn mit zusammengebissenen Zähnen fluchen, wenn die Klinge seinen aus Holz geschnitzten Gegner traf.
»Das ist für Senara und das für Rheis. Das für Eilan!«
Seine Stirn war schweißbedeckt, aber über seine Wangen liefen Tränen.
Wenn Eilan dann erwachte, weinte sie, weil er so traurig war. Sie verstand jetzt gut, wie die Trauer der Lebenden die Toten quälen konnte.
Eilan dachte daran, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, damit er wußte, daß sie noch am Leben war. Aber es bot sich ihr keine Möglichkeit dazu, und allmählich begriff sie, daß sie für ihn wirklich gestorben war. Je früher er sich damit abfand, desto besser würde es für sie beide sein.
In den ersten Monaten war sie nicht mehr als eine in einer Gruppe potentieller Priesterinnen. Sie verbrachte viel Zeit damit, das Wissen der Druiden auswendig zu lernen. So, wie man den großen Gott und die Göttin nicht in einem von Menschen geschaffenen Tempel verehren konnte, so durfte das göttliche Wissen nicht Büchern anvertraut werden. Die Worte der Götter ließen sich nicht auf menschliches Maß begrenzen.
Eilan fand das manchmal seltsam, denn nichts, was die Götter geschaffen hatten, erschien ihr schwächer als das menschliche Gedächtnis. Aber sie stellte fest, daß ihre Lehrerinnen ein erstaunliches Erinnerungsvermögen besaßen. Ein großer Teil des alten Wissens war mit der Zerstörung von Mona verlorengegangen, aber es war auch noch vieles vorhanden. Ardanos zum Beispiel konnte das heilige Gesetz von Anfang bis Ende auswendig.
Eilan fühlte sich im Kreis der Priesterinnen sehr wohl. Am besten kannte sie die beiden, die sie am ersten Abend im Haus der Frauen begrüßt hatten - Eilid und Miellyn.
Die kleine und blonde Eilid war älter als es den Anschein hatte. Sie lebte seit ihrer frühen Kindheit in Vernemeton. Miellyn war ungefähr so alt wie Eilan. Sie hatte einen vollen Busen, lange Glieder und dichte kastanienbraune Haare. Außer den beiden hatte sich Eilan mit einer etwa vierzigjährigen Frau angefreundet. Sie hieß Gwenna und hatte die Aufgabe, die jüngsten Priesterinnen in ihre Pflichten einzuweisen und sie in den weniger bedeutenden Ritualen zu unterweisen.
Eilans erste Aufgabe war es, die Zeremonien in allen Einzelheiten auswendig zu lernen, bei denen die Novizinnen mitwirkten. Wenn dabei jemandem ein Fehler unterlief, wurde das Ritual unterbrochen, und sie begannen noch einmal von vorne. Zwei-oder dreimal kam es zu solchen Unterbrechungen, weil Eilan einen Fehler beging. Sie war sehr unzufrieden mit sich, aber Miellyn versicherte ihr, daß es allen einmal so gegangen war.
Eilan lernte auch den Lauf des Mondes und der Sterne. Viele Nächte lag sie zwischen Eilid und Caillean an einer einsamen Stelle im Gras und beobachtete, wie der Große Wagen um den Nordstern wanderte. Sie bestaunte den stillen Gang der Planeten, die am Horizont aufstiegen und wieder versanken, während die Nordlichter über den Sommerhimmel flammten. Eilan erfuhr, daß nicht die Sonne um die Erde kreiste, wie sie ihr Leben lang geglaubt hatte, sondern die Erde um die Sonne - von all dem Wunderbaren, das sie im Heiligtum lernte, war das am schwersten zu glauben. Von den ersten Jahren in Vernemeton blieben ihr diese Nächte am besten in Erinnerung. Sie sollte nie vergessen, wie sie unter der warmen Decke lag und zum Himmel hinaufblickte, während Cailleans Stimme durch die Dunkelheit drang und lange Geschichten über die Sterne erzählte.
Manchmal wünschte sie, Harfe spielen zu können, um Cailleans Gesang zu begleiten, und auch singen zu dürfen. Aber bei den relativ seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit Caillean zusammen war, bekam sie immer wieder zu hören, daß Frauen die Harfe bei den Zeremonien nicht spielen durften.
»Aber warum
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