Die Wälder von Albion
werden. Gleichzeitig legte sich über Ardanos ein dunkler Schatten.
»Starker Sohn, geliebter Junge, deine Sippe ruft dich… Krieger, Sohn der Raben, wir rufen dich mit den Kräften der Erde, der Eiche und des Feuers!«
Als der Ruf verhallte, begann Dieda langsamer zu atmen. Sie ließ den Duft der brennenden Kräuter bis in ihre Lungen dringen. Im Raum war es völlig still geworden. Eilan unterdrückte einen Hustenreiz. Der starke Duft der brennenden Kräuter machte sie benommen. Dieda saß ruhig und mit nach innen gerichtetem Blick vor der Schale mit dem klaren Wasser.
Sie hatten einen lockeren Kreis um Dieda gebildet. Eilan konnte von ihrem Platz aus auf das Wasser blicken. Ein kalter Schauer überlief sie, als Dieda plötzlich zu schwanken anfing - schwankte auch sie? Eilan hatte den Eindruck, daß alles um sie herum zu kreisen begann. Die Gestalten im Raum wurden undeutlich und verschwammen, bis Eilan schließlich nur noch das helle Wasser in der Schale wahrnahm.
Ein dunkler Nebel schien über das Wasser zu ziehen, der sich zu einem grauen Wirbel verdichtete, und dann - Eilan hielt die Luft an - erschien ein Gesicht. Es war das Gesicht ihres Bruders Cynric.
Dieda unterdrückte einen Schrei. Aber sie faßte sich schnell wieder und sagte ruhig: »Cynric, du mußt zurückkommen. Wir brauchen dich hier. Diesmal geht es nicht um ein Verbrechen der Römer. Das Volk der Caledonier und die Stämme aus Eriu haben euer Haus in Schutt und Asche gelegt. Sie haben deine Mutter und deine Schwester getötet. Cynric, komm zurück in das Land der Cornovier. Dein Ziehvater ist am Leben, und er braucht deine Hilfe.«
Diedas Worte schienen sich in die Lüfte zu erheben und wie Wolken davonzuziehen. Als sie verklungen waren, verschwand das Gesicht im Wasser, in dem wieder dunkle Wirbel kreisten. Dann wurde es wieder klar. Dieda stand auf. Noch immer benommen, klammerte sie sich an den Tischrand.
»Er wird kommen«, sagte sie. »Der Vorsteher des Lagers wird ihn beurlauben, und die Priesterinnen werden ihn mit allem versorgen, was er für den Ritt braucht. Wenn das Wetter sich hält und die Wege trocken bleiben, müßte er in einigen Tagen hier sein.«
Bendeigid sagte: »Aber was ist mit den Barbaren, die unser Haus abgebrannt haben? Wenn du nicht zu erschöpft bist, Dieda… Wir müssen sie ebenfalls sehen und herausfinden, wo sie sich befinden, damit sie der gerechten Strafe nicht entgehen… «
»Ich werde dir dabei nicht helfen«, erklärte Dieda entschlossen und schob sich müde die langen Haare aus dem Gesicht. Dann sagte sie zu Ardanos: »Vater, ich habe mich immer deinem Willen gefügt, aber nun laß Caillean tun, was Bendeigid möchte. Caillean hat nichts dagegen, daß wir uns mit den Römern verbünden. Ich vertrete einen anderen Standpunkt. Es wird mir schwerfallen, euch diesen Verrat an unserer Sache zu verzeihen… «
»Mein Kind… «
»Oh, ich weiß sehr wohl, daß die Umstände es von euch verlangen. Aber wie könnt ihr versuchen, mich gegen Cynric auszuspielen?«
»Das richtet sich nicht gegen Cynric«, erklärte Caillean. Sie nahm die Schale vom Tisch und schüttete das Wasser vor die Tür. Die frische Luft tat Eilan gut, aber sie begann sofort die Kühle zu spüren, obwohl es draußen eine warme Sommernacht war. Caillean füllte die Schale mit frischem Wasser, stellte sie auf den Tisch und beugte sich darüber.
Diesmal schien es länger zu dauern, bis man im Wasser etwas sehen konnte. Die grauen Wirbel wollten nicht weichen. Caillean blickte regungslos auf das Wasser. Ihr Gesicht wurde vor Anstrengung bleich und bleicher. Alles Blut schien daraus zu weichen. Schließlich sagte sie leise, aber mit großem Ernst, und es klang, als sei sie völlig erschöpft: »Zeigt euch mir, aber zeigt euch nur, wenn ihr es wollt.«
Eilan erfuhr nie, was die anderen sahen, aber als der graue Nebel sich auflöste, nahm sie Gestalten wahr - die Räuber, so wie sie in jener Nacht in Mairis Haus eingedrungen waren. Sie standen in ihren kurzen farbigen und zerrissenen Tuniken wie erstarrt an der Tür. Einige hielten Schwerter in der Hand - die Eilan damals nicht gesehen hatte -, andere Speere. Ihre blonden Haare und die rötlichen Bärte waren struppig und zottig. Sie waren so klar erkennbar, daß Eilan sogar Regentropfen auf den Köpfen und in den Bärten bemerkte. Bendeigid und Ardanos traten neben Caillean und nahmen Eilan damit die Sicht. Aber in ihrer Erinnerung sah sie Caillean, die zum Feuer lief, in die Glut faßte
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